Gabriele Keiser

Versehrte Seelen


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Wieland lachte auf. »Ich dachte, Sie in Berlin hätten einen ähnlichen Humor wie wir Rheinländer. Heribert Blankenhain galt allgemein als der Inbegriff eines ›Bonner Jeck‹. Er sah sich als Hoffnungsträger für eine politische Spitzenposition, aber das fruchtete nicht. Ein paar Mal war er kurz davor, die Karriereleiter höher hinaufzusteigen, doch stets nahm ihm ein anderer den Posten weg. Privat war er ein Charmeur, der gut bei den Damen ankam. Warum auch immer. Jedenfalls war er mehrmals verheiratet.«

      »Was ja nicht ganz ungewöhnlich ist in Politikerkreisen«, sagte sie ungerührt.

      Wieland ging nicht auf ihre Bemerkung ein. »Seine erste Frau kam aus einem guten Haus, was für ihn, der aus kleinen Verhältnissen stammte, einen Aufstieg bedeutete. Aber die Frau starb schon kurz nach der Eheschließung unter nicht ganz geklärten Umständen.« Er sah sie vielsagend an.

      »Was heißt das?«

      Wieland hob die Schultern. »Es hat jedenfalls nicht lange getrauert und bald darauf wieder geheiratet. Die Eltern waren einfache Leute vom Land und gegen diese Hochzeit, aber er hat sich durchgesetzt. Das ging damals durch alle Zeitungen. Er hatte jedenfalls Großes vor hier in Bonn. Wollte überall mitmischen und alles umkrempeln. Dabei trat er von einem Fettnäpfchen ins andere. Am Schluss musste er abziehen. Wie ein geprügelter Hund. Seine Frau hat ihn auch verlassen.«

      »Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie mir sagen, es gibt eine Menge Leute, die Interesse am Ableben des Herrn Blankenhain hätten?«

      Ihr Chef zuckte mit den Schultern. »Kann ich mir eigentlich nicht so recht vorstellen. Warum ausgerechnet jetzt? Ist ja alles schon so lange her. Um den war es wirklich schon seit Jahren sehr still geworden. Weiß gar nicht, was der nach seiner aktiven Zeit gemacht hat. Der ist ja auch schon weit über siebzig gewesen.«

      Helena blätterte in ihren Unterlagen. »Achtundachtzig«, sagte sie. »Vor Kurzem ist er achtundachtzig geworden.«

      »Nun ja. Manche Politiker sind in dem Alter noch ziemlich helle. Denken Sie nur an Helmut Schmidt.«

      »Der war kein Konservativer«, entgegnete sie trocken.

      »Ach, und Sie meinen, das macht einen Unterschied?«

      »Und kein Bonner Jeck.«

      Wieland lachte laut. »Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.

      Gibt’s denn irgendwelche Hinweise auf einen möglichen Täter?«

      Das Bild des schweren geschliffenen Aschenbechers am Boden neben dem Toten blitzte vor ihrem inneren Auge auf.

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Wir müssen in jedem Fall zügig vorankommen. Die Presse sitzt uns im Nacken. Die brauchen Futter, sonst schreiben die, was sie wollen. Jetzt im Sommerloch schnappen die alles auf, was nach Sensation klingt.«

      »Ich bin stets bemüht, meine Arbeit zügig und gründlich zu machen. Aber ich werde nichts Ungesichertes aus der Hand geben.«

      Er schaute auf, Überraschung im Blick. »Schon klar. Aber behalten Sie die Brisanz im Hinterkopf. – Hat eigentlich schon jemand die Angehörigen benachrichtigt?«

      »Äh … Ich denke nicht.«

      »Dann wird’s Zeit. Bevor die das aus den Medien erfahren.«

      Bonn, Hollsteinkolleg

       10. Kapitel

      Obwohl es so heiß war und die Luft staubig und stickig, stand sie schon wieder in diesem ungeordneten Archiv. Einerseits ließ Henrike diese Geschichte keine Ruhe. Andererseits hatte der Student nochmals angerufen und sie dringlich gebeten, sich für ihn einzusetzen. Er sei mit seiner Arbeit bereits im Rückstand und die Ferien stünden doch an. Weitere sechs Wochen könne er keinesfalls warten. Ob Henrike nicht den Direktor überreden könne, dass er, Behrends, Zugang zum Dachboden erhielt, um eigenständig zu recherchieren. Während der Ferien würde er doch niemanden stören.

      »Nein, nein, ein Unbefugter erhält auf keinen Fall Zugang zu unserem Dachboden. Doktorarbeit hin oder her.« Herr Novak hatte -– erwartungsgemäß – äußerst zurückhaltend reagiert, als sie das Thema ansprach und war sichtlich nervös geworden. »Lassen Sie doch die Vergangenheit ruhen«, hatte er bedächtig gesagt und sie eindringlich angesehen. »Das bringt nur unnötigen Aufruhr. Sie wissen doch auch, dass wir als Privatschule mehr denn je auf die Gelder der Eltern angewiesen sind. Die Bevölkerung ist hochsensibilisiert und man sieht ja, wohin das führt, wenn man allzu tief in der Vergangenheit gräbt. Da braucht noch nicht mal was an der Sache dran zu sein, schon ist man stigmatisiert. Ständig hört man von Misshandlung und Missbrauch. Man bekommt ja fast den Eindruck, jedes Kind sei irgendwann mal missbraucht worden. Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Leipold. Ich nehme Ihr Anliegen ernst. Und wenn an diesen Behauptungen wirklich was dran sein sollte, bin ich der Letzte, der das negiert. Aber sobald da einer anfängt zu wühlen, schadet das unserem Ruf. Auch wenn sich herausstellt, dass da nichts dran ist, wovon ich im Übrigen überzeugt bin. Das geht heutzutage sehr schnell. Und dann? Sie wollen doch auch nicht Ihren Job verlieren.«

      Nein, das wollte sie ganz sicher nicht. Und hatte er nicht Recht? Hier war Besonnenheit gefragt. Ständig gerieten Schulen in Verruf, weil es dort angeblich Missbräuche gegeben hatte. Heftige Diskussionen waren entbrannt, Internate und Heime standen allenthalben unter Rechtfertigungsdruck.

      Aber konnte man mit solchen Argumenten wirklich legitimieren, dass Unrecht unter den Teppich gekehrt wurde? Auch, wenn es schon lange zurück lag?

      »Ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte: Nach den Ferien setzen wir uns in aller Ruhe zusammen und klären das Ganze intern. Dann hat jeder genügend Zeit, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen und die Sache eingehend zu prüfen.«

      Dieser Vorschlag klang plausibel.

      Dennoch wurde sie den Eindruck nicht los, auf eine Zeitbombe gestoßen zu sein. Auch war ihr bewusst, dass sie bisher nur die Spitze des Eisbergs gesichtet hatte. Offensichtlich hatte sich bisher niemand getraut, sich mit den Unterlagen dort oben auf dem Dachboden zu beschäftigen, sie zu ordnen und seine Schlüsse daraus zu ziehen.

      Wenigstens hatte sie sich einen groben Überblick verschafft. Die Akten waren zumindest zeitlich einigermaßen in einer Reihenfolge. Doch gezielt finden konnte man kaum etwas. Von einer alphabetischen Ordnung ganz zu schweigen. Immerhin bedeutete jede einzelne Akte ein Menschenleben, ein Schicksal, über das in den Räumlichkeiten dieser Schule entschieden worden war.

      Nach der langen Zeit waren von den hier archivierten Kindern sicher viele längst verstorben, wenn sie nicht damals schon dem Tod anheimgegeben worden waren.

      Auf einem der oberen Regalböden in einem verwinkelten Erker hatte sie zwei größere verschnürte Kartons entdeckt, an die sie ohne Leiter nicht heranreichte. Wieder einmal verfluchte sie ihre geringe Körpergröße, die sie oftmals auch vor Supermarktregalen verzweifeln ließ. Hier oben war weder eine Leiter noch ein Schemel, der hoch genug war, noch sonstwas, das ihr eine Hilfe sein könnte. Ob sie vielleicht doch jemanden um Hilfe bitten sollte? Sie versuchte, zu entziffern, was auf der Seite des einen Kartons geschrieben stand. Es war ein einzelnes Wort. Ein verwischter Schriftzug. Die Anfangsbuchstaben konnte sie deutlich erkennen. »De«. Das ganze Wort endete auf »tanol«. Sie konnte sich absolut keinen Reim darauf machen.

      Bonn-Castell

       11. Kapitel

      »Monika Blankenhain. Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse«, stand auf einem Schild, das an der gelb getünchten Hauswand angebracht war. Helena klingelte. Musste warten. Klingelte. Klingelte nochmal.

      Erst nach einer geraumen Weile wurde die Tür geöffnet. Eine Frau Mitte Ende Dreißig – vielleicht genauso alt wie sie selbst –sah sie mit unverhohlen verärgertem Blick aus kajalumrandeten Augen an. Dunkles, naturkrauses Haar umwallte ihren Kopf. »Sie wünschen? Ich bin mitten in einem Patientengespräch.«

      Helena zückte ihren Dienstausweis. »Rosenberg«, stellte sie sich vor. »Frau Blankenhain?«

      Die andere nickte. Nun drückte ihre Miene Verwunderung aus.

      »Ich