Laken geht ohnehin komplett ins Labor. Das Beste wisst ihr aber noch gar nicht: Wir haben Hautspuren unter den Fingernägeln des Toten gefunden. Er muss den Täter gekratzt haben. Näheres erfahren wir aus der KTU. Ich hab meine Jungs in der Vogelkoje alleine weitermachen lassen und bin zu diesem Doktor Hecht nach Boldixum gefahren. Der Tote liegt in seinem Behandlungszimmer und blockiert ihm die ganze Praxis. Gleich nachher lasse ich ihn abholen, damit der Doc weiterarbeiten kann.«
»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«, hakte Bennings nach.
»Erschlagen, mit einem stumpfen, runden Gegenstand, vermutlich aus Holz. Ich habe sofort per Handy in der Koje Bescheid gesagt, die Jungs drehen jeden Ast danach um. Die Leiche weist zwei Wunden auf, eine kleinere an der Stirn, eine große mit deutlichen Frakturen seitlich auf dem Schädel. Ich lehne mich, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass der Schlag auf den Schädel zum Tode geführt hat und vermutlich als zweiter Schlag ausgeführt worden ist. Genaueres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen, auch ob das frische Sperma im Laken von ihm stammt. Jetzt brauche ich erst mal etwas Pause, dann fahre ich gleich wieder raus.«
»Gut.« Bennings knetete seine Unterlippe. »Dann lass uns mal ein paar Hypothesen aufstellen. Hypothese eins: Rickmers trifft sich mit seiner Geliebten in der Vogelkoje, es kommt zum Streit, in dessen Folge er unglücklich stürzt oder sie ihn erschlägt. Vielleicht wollte er sich nicht von seiner Frau trennen, oder so – klassisches Schema halt. Hypothese zwei: Die Geliebte ist die Ehefrau eines anderen, der die beiden in flagranti erwischt und Rickmers erschlägt. Hypothese drei: Rickmers und ein weiterer Mann streiten sich um die Frau, der andere gewinnt.«
»Hypothese vier«, ergänzte Dernau, »Rickmers ertappt seine eigene Frau mit einem anderen Kerl, es kommt zu besagtem Streit, der andere oder seine eigene Frau erschlägt Rickmers.«
»Hypothese fünf: Das Motiv liegt im Umfeld des Streits mit diesem Ökoverein«, fuhr Bennings fort, »oder – Hypothese sechs: Es hat etwas mit der Fleischereikette zu tun, also mit dem beruflichen Umfeld Rickmers’.«
»Hypothese sieben: All das ist Quatsch, und es war ganz anders«, unkte Paul Woyke, erhob sich wieder von seinem Stuhl und zwinkerte Dernau zu. »Auf jeden Fall wünsche ich euch fruchtbare Ermittlungen.« Er verließ grinsend den Raum.
»Sollte aber doch etwas an unseren Beziehungs-Hypothesen sein, liegt der Schlüssel bei der betreffenden Frau«, erklärte Dernau. »Lass uns zuerst zu Frau Rickmers fahren. Vielleicht erübrigt sich danach schon alles andere.«
»So machen wir’s«, stimmte Bennings zu.
Er öffnete die Tür zur Wachstube und ging hinaus. Hinrichs hockte hinter seinem Schreibtisch und hatte sichtlich mit seiner Müdigkeit zu kämpfen, denn immerhin hatte er seit gestern Abend durchgehend Dienst geschoben.
»So, Kollege Hinrichs, jetzt geben Sie mir mal die Adresse des Mordopfers«, ordnete Bennings an, »und dann fahren Sie nach Hause und hauen sich auf’s Ohr. Vor morgen früh will ich Sie hier nicht mehr sehen.«
»Die Dienste auf dieser Wache teile immer noch ich ein«, begehrte Hinrichs auf. »Und mein nächster Dienst beginnt heute Abend um achtzehn Uhr. Ich habe in dieser Woche Nachtschicht. Hier ist die Adresse von Nahmen Rickmers. Da Sie mich ja offenbar dazu nicht brauchen, fahre ich jetzt nach Hause und ruhe mich aus, wenn Sie nichts dagegen haben. Falls Sie noch weitere Fragen haben, stehen Ihnen die Kollegen Vedder und Groth sicher gerne zur Verfügung.«
Er schob den Zettel über den Schreibtisch und ließ ihn am anderen Ende liegen, anstatt ihn Bennings in dessen ausgestreckte Hand zu geben.
»Und das ist die Information über den Verein, die Sie brauchen«, sagte er und warf einen zweiten Zettel hinterher. Dann erhob er sich, schnappte sich seine Uniformjacke und rauschte an dem erstaunten Hauptkommissar vorbei und zur Vordertür hinaus.
»Da habe ich aber jemandem auf die Füße getreten«, bemerkte Bennings, woraufhin die beiden übrig gebliebenen Polizisten nur die Schultern hochzogen und wieder fallen ließen, als wollten sie sagen: ›Was geht uns das an?‹ oder: ›Das kommt gelegentlich vor.‹
Bennings griff nach den beiden Zetteln und verließ ebenfalls, gefolgt von dem grinsenden Dernau, die Zentralstation.
5
Das Haus von Nahmen und Hilke Rickmers befand sich in Oldsum am Rande der Marsch, umgeben von einem üppigen Bauerngarten, der um diese Jahreszeit in voller Blütenpracht stand, und einem Friesenwall, der von einer sauber gestutzten Wildrosenhecke gekrönt wurde. Alles sah aus wie für die Zeitschriften Landliebe, Landlust oder Liebes Land gestylt und konnte unmöglich von den Besitzern allein in Schuss gehalten werden. Die Zufahrt hatte etwas Herrschaftliches. Statt über Pflaster oder Asphalt rollte der Wagen der Kriminalbeamten über weißen Kies. Das Haus selbst war groß, aber nicht protzig, und gediegen, aber nicht altmodisch. Es ruhte in seinem roten Backstein unter einem relativ frisch gedeckten, noch recht hellen Reetdach. Die Bewohner schienen ein gutes Gespür für den Balance-Akt zwischen Luxus und Bodenständigkeit zu haben. Alles hier strahlte Ruhe und Ordnung aus und ein angenehmes Gefühl von Sicherheit, was so gar nicht zu dem Anlass des Besuches der Kriminalbeamten passte.
Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie aus dem Auto stiegen und auf die Haustür zusteuerten. Bennings drückte auf den Messingknopf neben der Friesentür und trat wieder einen Schritt zurück. Nur Sekunden später öffnete eine blonde Frau mittleren Alters und sah sie aus verweinten Augen an.
»Guten Tag«, begann Bennings vorsichtig. »Frau Rickmers?«
Die Frau nickte und trat wortlos zur Seite. Offensichtlich hatte sie mit ihrem Besuch gerechnet.
»Mein Name ist Bennings, das ist mein Kollege Dernau. Wir sind von der Mordkommission aus Flensburg.«
»Ich weiß, Torben hat mich eben angerufen und mir gesagt, dass Sie kommen.«
»Torben?«, hakte Dernau nach.
»Ja, Kommissar Hinrichs, Ihr Chef.«
Dernau wollte die Dienstgrade und Vorgesetztenverhältnisse korrigieren, aber Bennings, der seinen Kollegen nur zu gut kannte, gab ihm ein Zeichen, das jetzt zu unterlassen. Die Kriminalbeamten betraten das Haus und folgten Frau Rickmers durch eine marmorgeflieste Diele in ein geräumiges Wohnzimmer mit ebensolchem Bodenbelag. Der Raum war taghell und wies mit seinem bodenständigen Panoramafenster auf die Marsch hinaus. Von hier aus sah man nur ins Grüne, nichts verstellte den Blick.
»Was hat Ihnen unser Chef denn noch erzählt?«, erkundigte sich Bennings beiläufig, als sie auf dem Sofa gegenüber der Witwe Platz nahmen.
»Nichts sonst. Er war ja erst letzte Nacht hier und hat mir vom Tod meines Mannes …« Sie brach ab und mühte sich sichtlich, ihre Tränen in Schach zu halten.
»Wir werden Sie nicht lange stören, Frau Rickmers«, versprach Bennings, »aber wir haben ein paar dringende Fragen. Die ersten vierundzwanzig Stunden nach einer Tat sind nicht selten ausschlaggebend für den Gang und den Erfolg der Ermittlungen. Deshalb können wir Sie auch nicht länger schonen.«
»Ich verstehe das. Haben Sie denn schon eine Spur oder einen Verdacht?«
»Deshalb sind wir hier, Frau Rickmers. Wir brauchen Ihre Hilfe. Zum Beispiel wüssten wir gerne, warum Ihr Mann letzte Nacht in der Vogelkoje war.«
»Genau weiß ich das auch nicht. Er hat gesagt, er habe noch einen wichtigen Termin.«
»Einen Geschäftstermin?«
Hilke Rickmers zuckte mit den Schultern und antwortete zögernd: »Ja, vielleicht. Es kann aber auch sein, dass es mit seinem Posten im Hegering zu tun hatte. Er hatte oft abends Termine, und ehrlich gesagt, hat es mich nicht sehr interessiert, was das für welche waren. Aus geschäftlichen Dingen habe ich mich herausgehalten, und die Jagd interessiert mich nun wirklich nicht.«
»Hat sich Ihr Mann zu solchen Terminen immer an derart merkwürdigen Orten getroffen?«, schaltete sich nun Dernau in das Gespräch ein.
»Wieso merkwürdig?«
»Ja