Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


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Gespräche nötig, lange Gespräche und vis-à-vis, nicht am Telefon. Solche Gespräche gab es aber nicht mehr zwischen Leander, seiner Frau und seinen Kindern.

      Er schlug die Augen auf und blickte auf das Wasser des kleinen Teiches. Auf der glatten Oberfläche las er im Spiegelbild der Mühle die Worte Venti Amica, nur auf dem Kopf. Er hob den Blick, so dass er beide betrachten konnte, Original und Spiegelbild. Trotz des abgebrochenen Flügels wirkte die Mühle stattlich. Als ein leichter Windhauch aufkam, bekam das Spiegelbild ein Eigenleben, entfernte sich die Kopie vom Original. Je stärker der Wind wurde, desto mehr verwischte sich das Bild, das eben noch so klar und deutlich gewesen war. Wind of change, dachte Leander. Der Wind des Wechsels, der wechselhaften Geschichte, war in der Lage, scheinbare Übereinstimmungen durcheinanderzubringen, Unterschiede deutlich werden zu lassen. Kleine Jungen sind die Abbilder ihrer Väter – bis die Pubertät kommt, dann entwickeln sie eine eigene Richtung. Und wenn schon die Pubertät derartige Planänderungen herbeiführen kann, wie heftig schlagen dann geschichtliche Ereignisse ins Kontor?

      Die Protestbewegung von 1968 hatte Leanders Vater Bjarne eine Richtung gegeben, die dessen Vater Heinrich niemals vorhergesehen hatte. War Bjarnes Weg automatisch der richtige gewesen, nur weil er moderner war, emotionaler? War Heinrich Leander automatisch verpflichtet gewesen, diesen Weg mitzugehen oder zumindest zu akzeptieren, nur weil der, der ihn einschlug, sein Sohn war? Wann hörte die Selbstverleugnung auf, die mit der Geburt der Kinder begann? Hatte ein Vater kein Eigenleben mehr, stand er nur noch in der Verantwortung für seine Kinder?

      Weshalb, verdammt noch mal, musste Leander ununterbrochen dafür sorgen, dass seine Kinder ein gutes Leben hatten? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein eigenes? Schließlich war der Umzug auf die Insel seine Rettung gewesen. Wer weiß, wie lange er sonst noch durchgehalten hätte. In einem Jahr vielleicht hätte sich der Deckel über seinem Sarg geschlossen, und dann hätten sie an seinem Grab gestanden – Inka, Hanno und Pia. Sicher, sie hätten Tränen vergossen, aber wie lange? Sie hätten ihm die Schuld selbst zugewiesen – aus ihrer Sicht durchaus verständlich. Sie hatten längst jeder ihr eigenes Leben, in das sie zurückgekehrt wären. Und niemand hätte auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ob er, Henning Leander, auch ein eigenes Leben gehabt hatte – niemand. Umso wichtiger, dass jeder selbst dafür sorgte, dass er sein Recht bekam, sein Recht auf ein eigenes Leben.

      Der kurze Windhauch ließ wieder nach, der Wasserspiegel beruhigte sich, Abbild und Original deckten sich wieder, und Henning Leander beschloss, die Zeit für sich laufen zu lassen. In Zukunft wollte er sein eigenes, unabhängiges Leben führen. Wenn seine Kinder etwas von ihm wollten, würden sie sich melden. Wenn nicht, auch gut. Der Neubeginn auf Föhr war ein Befreiungsschlag. Wenn es in seinem weiteren Leben Verpflichtungen gab, dann nur solche, für die er sich freiwillig entschied. Verantwortung für seine Kinder – okay. Selbstaufgabe – niemals wieder!

      Leander erhob sich von seiner Bank, rieb sich den schmerzenden Hintern und schlenderte auf dem schmalen Plattenweg einmal um den Teich herum. Die Seerosen, die ihre Köpfe durch den Spiegel steckten, und die Schmetterlinge auf den Blüten der am Rand wachsenden Stauden hatten mit einem Mal viel grellere Farben – oder kam ihm das nur so vor? Er würde Lena fragen. Genau. Lena hatte einen Blick für das Leben. Er würde sie anrufen, sobald er nach Hause kam. Und dann würde er zur Kurverwaltung gehen und Karten für das Stanfour-Konzert kaufen.

      Kriminaloberkommissar Dernau stand im Rahmen der Tür des Kojenwärterhäuschens und tobte. Dabei ließ er keine Beleidigung aus, kein Angriff war ihm zu scharf. Polizeioberkommissar Hinrichs blickte Hilfe suchend auf Dernaus Vorgesetzten Kriminalhauptkommissar Bennings, aber der stand betont teilnahmslos daneben und ließ das Geschehen an sich vorbeirauschen.

      Bennings und Dernau waren ein eingespieltes Team, die klassische Kombination guter Bulle / böser Bulle sozusagen, aber das allein war es nicht. In Dernau brodelte es un­unter­brochen, der Kessel stand ständig unter Dampf, und irgendwann musste der Druck nun mal raus. Davon abgesehen war Dernau genau die Art von Kollege, die man sich an seiner Seite nur wünschen konnte: erstklassig ausgebildet, intelligent, durchtrainiert, draufgängerisch und reaktionsschnell. In Gefahrensituationen konnte eine solche Persönlichkeitsstruktur beiden das Leben retten.

      Zudem hatte Dernau ja recht: Da hatte dieses Inselei die Leiche abtransportieren lassen, bevor die Spurensicherung sich ein Bild hatte machen können. Wenn der schlicht und einfach das getan hätte, was die Kommissare aus Flensburg für die Hauptbeschäftigung der Inselpolizei hielten, nämlich gar nichts, dann wäre der Fall vielleicht schnell gelöst gewesen. So aber waren wichtige Spuren verwischt worden, erste Eindrücke unmöglich gemacht und nicht mehr rekonstruierbar. Da änderten auch die Fotos nicht viel, von denen Hinrichs jetzt faselte. Allein das Argument, die Leiche wäre heute ohnehin nicht mehr in dem Zustand der letzten Nacht gewesen, weil es hier Dachse, Marder, Ratten und dergleichen gebe, zeigte, mit was für einem geistigen Niveau die Fachkräfte aus Flensburg auf so einer Insel konfrontiert wurden.

      »Dann stellt man Wachtposten auf«, wetterte Dernau, »lässt das Licht an, bewaffnet sich mit Knüppeln, wenn man schon zu blöde ist, zu merken, dass man eine Pistole trägt. Mann, das darf doch alles nicht wahr sein!«

      »Wachtposten?«, beharrte Hinrichs. »Woher soll ich denn die Leute …«

      »Dann stellen Sie sich halt selber eine Nacht lang hier hin!«, brüllte Dernau jetzt. »Schließlich hatten Sie letzte Nacht Dienst, Sie Wachtmeister! Und jetzt raus hier, bevor Sie noch mehr Schaden anrichten!«

      »Ich habe die ganze Nacht lang den Tatverdächtigen verhört«, begehrte Hinrichs noch einmal auf.

      »Raus!«, brüllte Dernau, anstatt auf den Einwand einzugehen.

      Bennings machte wortlos einen Schritt zur Seite und ließ den niedergeknüppelten Leiter der Inselpolizei an sich vorbeischleichen. Als der außer Hörweite war, wandte er sich an Dernau. »Jetzt ist es gut, Klaus. Wir brauchen ihn noch für die Laufarbeit. Außerdem denke ich, dass er seine Lektion begriffen hat.«

      »Zu Befehl, Chef«, antwortete Dernau und grinste wie jemand, der gerade seinen Spaß gehabt hatte.

      Im grünen Tunnel vor der Hütte tauchte Hinrichs dienstbeflissen wieder auf und meldete, dass sich Fahrzeuge näherten.

      »Das ist die Spurensicherung«, antwortete Bennings und nickte ihm zu. »Zeigen Sie den Kollegen den Weg, Herr Hinrichs.«

      Hinrichs verschwand wieder und kam wenige Minuten später mit einem ganzen Trupp von Männern zurück, die alle in weißer Schutzkleidung steckten und schwere Alukoffer schleppten.

      »Das ist ja der Arsch der Welt, hier möchte ich nicht tot über dem Zaun hängen«, begrüßte Paul Woyke, der Leiter der Spurensicherung, die beiden Kommissare.

      »Na ja, der Arsch der Welt ist wohl übertrieben, aber zumindest kann man ihn von hier aus schon ganz gut sehen«, antwortete Bennings und schüttelte Woyke die Hand.

      Drei weitere Männer in weißen Overalls und mit Alukoffern in den Händen drückten sich nickend an ihnen vorbei und machten sich wortlos an die Arbeit. Draußen sperrte ein Mann den Tatort weiträumig mit Trassierband ab, dann wandte sich jeder seiner festen Aufgabe zu.

      »Was ist das denn für ein Teil?«, erkundigte sich Dernau, den die Kriminaltechnik faszinierte. Er deutete auf einen Kasten, der aussah wie ein Messgerät und den einer der Männer mit einem Gurt über der Schulter trug. Oben ragte wie eine Antenne ein Stab heraus, auf den eine Art Taschenlampe gesteckt war. Ein Kabel verband Lampe und Kasten.

      »Das ist eine Lumatec Superlite 400«, antwortete der Mann, machte aber keinerlei Anstalten, das Gerät näher zu erklären.

      »Aha«, höhnte Dernau. »Damit dir ein Licht aufgeht, oder was?«

      »Kann man so sagen«, entgegnete der Mann und ließ Dernau auflaufen, indem er ohne weitere Erklärungen das Gerät einschaltete und mit der Arbeit begann.

      »Das ist unsere neue Wunderwaffe«, schaltete sich Woyke nun ein. »Eine Multispektrallampe, mit der wir mittels Fluoreszenzprüfung nach Spuren wie Blut und dergleichen suchen können.«

      »Hattet ihr sowas nicht schon immer?«, zeigte