Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


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am Haupteingang führte.

      Heinz Baginski rappelte sich mit schmerzendem Schädel auf, bemerkte nun, da er sich im Gebüsch einen Dorn in den rechten Fuß jagte, dass er noch immer keine Schuhe trug, und humpelte auf einem Bein zur Tür des Kojenwärterhäuschens. Ein kalter, weißer Lichtstreifen fiel auf den Weg davor. Vorsichtig näherte er sich der Türöffnung, immer darauf gefasst, dass noch weitere Gestalten herausstürzen und ihn umrempeln könnten. Aber da kam niemand mehr.

      Als Heinz Baginski nun durch die offene Tür in das beleuchtete Kojenwärterhäuschen spähte, bot sich ihm ein Bild, das genau die Gefühle in ihm auslöste, vor denen sein Arzt ihn so dringend gewarnt hatte. Und so kam es, dass an diesem Abend zum dritten Mal ein Schrei die Stille der Boldixumer Vogelkoje zerriss.

      3

      »Scheiße!«, fluchte Polizeioberkommissar Hinrichs und knallte den Hörer auf die Gabel. »Wenn uns da einer verarscht, dann kann er sich warm anziehen.«

      »Was ist denn los?«, fragte Polizeihauptmeister Jens Olufs gelassen, der derartige Ausbrüche seines Chefs schon gewohnt war.

      »Eine Leiche in der Boldixumer Vogelkoje«, antwortete Hinrichs knapp.

      »Ja, klar. Warum nicht gleich ein Amoklauf mit fünfzehn Toten in der Lembecksburg?«

      »Vorsicht, Jens. Treib’s nicht zu weit«, knirschte Hinrichs mit einem gefährlichen Unterton, so dass Olufs schlagartig den Ernst der Lage erkannte.

      In diesem Moment klingelte die Mikrowelle. Hinrichs öffnete die Tür und zog einen Teller mit dem Backfisch heraus, den er sich gerade aufgewärmt hatte. Er bugsierte das heiße Fischfilet direkt vom Teller zurück zwischen die beiden Baguettehälften auf dem Tisch, zupfte das Salatblatt zurecht und wickelte die Serviette drum herum. Jetzt sah das Backfischbrötchen wieder aus wie vor zwei Stunden, als er es im Fischerhus in der Mühlenstraße gekauft hatte. Und es war wieder exakt genauso heiß, denn auch da war es aus der Auslage zuerst in die Mikrowelle gewandert.

      Hinrichs angelte den Autoschlüssel vom Schreibtisch, warf ihn Olufs zu und setzte sich die Dienstmütze auf. »Du fährst«, bestimmte er. »Sonst wird mein Abendessen wieder kalt.«

      Während der Fahrt im blau-silbernen Passat durch die Marsch biss Hinrichs herzhaft in sein Backfischbrötchen und störte sich nicht im Mindesten daran, dass sich die Remoulade auf seinen Wangen, dem Doppelkinn und im Schnauzbart verteilte. Erst als sie fett auf sein Hemd tropfte, quetschte er ein »Scheiße, Mann!« zwischen Fisch- und Brötchenstücken heraus, wodurch sich das Tropfen beschleunigte und die Sauce auf dem Hemd eine stückige Konsistenz annahm. An der Boldixumer Vogelkoje angekommen, stieg er aus dem Auto und wischte mit der fettigen Serviette an seinem Hemd herum. Das machte alles noch schlimmer, so dass Hinrichs das Papiertuch zerknüllte und wütend in den Graben warf.

      »Vorsicht, Chef«, sagte Olufs. »Das ist ein Tatort. Nachher findet die Spusi die Serviette, und die Spuren auf Ihrem Hemd führen dann direkt zu Ihnen.«

      Er fing sich einen vernichtenden Blick seines Vorgesetzten ein, der nun in die Knie ging und die Serviette schnaufend wieder aus dem Graben angelte. Dann schritt Hinrichs gefolgt von Olufs über die Brücke und betrat als Erster das in tiefem Dunkel gelegene Gelände der Vogelkoje. Vor den Beamten erstrahlte das Kojenwärterhaus hell erleuchtet unter den nächtlich schwarzen Bäumen. Sie erkannten eine zitternde Gestalt, die ohne Schuhe neben der offenen Tür auf der Erde kauerte und sich nun erhob.

      »Na endlich!«, rief der Mann und machte humpelnd ein paar Schritte auf sie zu. »Wissen Sie eigentlich, was es heißt, neben einer Leiche hier in der Dunkelheit zu warten?«

      »Sie haben uns angerufen?«, überhörte Hinrichs routiniert die Kritik.

      »Baginski«, stellte der Mann sich vor. »Heinz Baginski aus Bottrop. Da drin liegt ein Toter.«

      »Woher wissen Sie das?«

      »Ich habe ihn gesehen!«

      »Nein, ich meine, woher wissen Sie, dass er tot ist?«

      Heinz Baginski stutzte. Die Frage war berechtigt. Er hatte der Leiche wirklich nicht den Puls gefühlt. Aber dann sah er das scheußliche Bild im Geiste wieder vor sich. »Das Blut«, stammelte er. »Überall ist Blut.«

      »Na gut, Sie warten hier, wir sehen uns das mal an.«

      Hinrichs machte ein paar vorsichtige Schritte auf die offene Tür zu, Jens Olufs folgte ihm. Und dann sahen auch sie, dass es da keinen Zweifel gab. Der Tote musste ein geradezu klaffendes Loch im Hinterkopf haben, denn er lag in einer Blutlache, die mit gelbweißen Stücken vermischt war. Hinrichs hatte zwar noch nie Gehirnmasse gesehen, aber so hatte er sie sich immer vorgestellt. Und dann erkannte er etwas, das ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, und er wusste, dass er handeln musste. Schließlich hatte er als Chef der Inselpolizei eine Verantwortung für das große Ganze.

      Auch Jens Olufs trat nun einen Schritt näher heran, da sein Vorgesetzter ihm mit seiner Leibesfülle den Blick versperrte.

      »Pass auf das Blut auf«, ranzte Hinrichs. »Latsch da bloß nicht rein!«

      Olufs achtete genau darauf, wo er hintrat, und versuchte, das zur Seite gedrehte Gesicht des Toten zu erkennen.

      »Mann«, entfuhr es ihm dann. »Das ist ja der Rickmers. Was macht der denn nachts in der Vogelkoje?«

      »Genau die Frage stellt sich«, brummte Hinrichs und fügte wie nur für sich selbst bestimmt hinzu: »Und deshalb müssen wir jetzt handeln. Der Mann hat einen Ruf zu verlieren. Nahmen Rickmers ist nicht irgendwer!«

      »Ich glaube, sein guter Ruf ist im Moment seine geringste Sorge«, wandte Olufs ein.

      »Und Hilke?«, brüllte Hinrichs.

      »Welche Hilke?«

      »Hilke Rickmers, verdammt noch mal! Was glaubst du wohl, was das hier für sie bedeutet?«

      In einem musste Jens Olufs seinem Vorgesetzten recht geben: Die Familie Rickmers hatte einen Namen auf der Insel. Wie man den allerdings schützen sollte, nachdem der Mann nun einmal unwiderruflich tot war, leuchtete ihm nicht so ganz ein. »Was haben Sie vor, Chef?«, erkundigte er sich unsicher.

      »Lass das meine Sorge sein«, erwiderte Hinrichs abweisend. »Bring diesen … wie heißt der doch gleich?«

      »Baginski«, antwortete Olufs.

      »Bring diesen Baginski zum Auto und warte da auf mich.«

      Olufs sah seinen Vorgesetzten fragend an, folgte dann aber dem Befehl und ging hinaus. »Kommen Sie, Herr Baginski«, forderte er den zitternden Zeugen auf. »Setzen Sie sich in unseren Dienstwagen, bis wir hier einen ersten Überblick haben.«

      Heinz Baginski wankte hinter dem Polizisten her. Jeder Meter, den er zwischen sich und die Leiche brachte, konnte für sein seelisches Gleichgewicht nur gut sein. Aber dann fiel ihm etwas ein. »Meine Schuhe«, rief er, »und meine Ausrüstung.«

      »Wie bitte? Welche Ausrüstung?«

      »Meine Kamera ist noch am Teich. Deshalb bin ich doch hier. Ich wollte Enten fotografieren. Und die Kamera lasse ich nicht einfach so zurück.«

      Olufs überlegte kurz. »Gut«, bestimmte er dann. »Holen Sie den Krempel. Ich warte am Auto.«

      Heinz Baginski lief zum Kojenteich, zog sich seine Schuhe an und baute seine Kamera und sein Stativ ab. Dann schulterte er alles und stolperte den Weg zurück. Als er an der offenen Tür des Kojenwärterhäuschens vorbeikam und einen vorsichtigen Blick hinein warf, sah er den anderen Polizisten vor der Leiche knien. Schnell setzte er seinen Weg fort, um nicht noch einmal länger als nötig mit dem schrecklichen Anblick des Toten konfrontiert zu werden. Olufs stand neben der offenen Beifahrertür und half dem verstörten Zeugen auf den Sitz. Dann drückte er sanft die Tür zu und wartete, wie sein Vorgesetzter es angeordnet hatte.

      Der kam einige Minuten später und steuerte diensteifrig auf den Wagen zu. Schon aus einigen Metern Entfernung wedelte er heftig mit den Armen. »Wo ist die Kamera?«, fragte er.