Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


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beharrte Hinrichs mit einem beruhigenden Unterton.

      Als der Morgen graute, sank Heinz Baginski völlig erschlagen auf der Pritsche des einzigen Zellenraumes in der Zentralstation zusammen. Hinrichs hatte ihn vorläufig festgenommen, nachdem das Verhör erfolglos verlaufen war. Jetzt waren die beiden Polizisten auf dem Weg zur Vogelkoje. Zum Glück hatten sie irgendwann einen Anruf bekommen, der sie dorthin beordert hatte. Nun hatte Baginski ein paar Stunden Zeit, um sich zu erholen, und dann würde er einen Rechtsanwalt verlangen, der ihn hier herausholte. Das war doch einfach alles lächerlich, was hier abging!

      Erschöpft fiel Heinz Baginski in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      Henning Leander steuerte zunächst wie jeden Morgen die Bäckerei Hansen in der Mittelstraße an, bevor eine Touristenschlange entstand, die sich wie immer weit in die Fußgängerzone erstrecken würde, und kaufte die üblichen zwei Brötchen für sein Frühstück: einen Kornkracher und ein Dünenkrusti. Die fünf Verkäuferinnen hinter der Theke bereiteten sich offenbar mental auf den nahenden Ansturm vor, der sie während der gesamten Saison immer zwischen halb neun und halb elf Uhr überrollte. Sie wirkten irgendwie in sich gekehrt, als lauschten sie wie einst Boris Becker vor einem großen Match einem inneren Yogi.

      Dann führte Leanders Weg wie üblich über den Sandwall auf die Mittelbrücke. Vor dem Frühstück musste er jeden Morgen einen Blick auf das Wattenmeer geworfen und einen Ausblick auf das Wetter gewonnen haben, sonst fing der Tag irgendwie nicht richtig an. Das war zu einem derart verfestigten Ritual geworden, dass sich Leander gar nicht mehr vorstellen konnte, wie es jemals anders hatte sein können, obwohl er gerade erst ein gutes halbes Jahr auf der Insel Föhr lebte und derartigen Luxus früher überhaupt nicht gewohnt gewesen war.

      Die Mittelbrücke war leer an diesem Morgen, und über dem Meer glitzerte die Sonne durch den Dunst. Die Hallig Langeneß wirkte seltsam entrückt. Die Ebbe war vorbei, das Wasser lief gerade erst wieder auf, so dass der Strand für die Badegäste momentan recht uninteressant war. Auch auf dem Sandwall herrschte zwischen den Bäumen, die die Grünflächen beschatteten, die Ruhe vor dem Sturm. Jens Hoss, genannt Bubu, der Inhaber des Buchladens, der in der Langform Bunter Buchladen hieß, hatte bereits seine Karten- und Zeitungsständer auf den Gehweg geschoben, saß nun draußen auf dem Fenstersims und konzentrierte sich auf das belegte Brötchen, das er allmorgendlich beim Bäcker holte. Er grüßte zu Leander herüber, als der den Steg verließ und auf die Mittelstraße zusteuerte.

      Bei Metzger Friedrichs kaufte Leander die Wurst für seine Brötchen: Zwei Scheiben Hähnchen in Aspik und zwei Scheiben Mortadella, mehr brauchte er für sich alleine nicht. Wie übersichtlich sich sein Leben gestaltete, seit er allein wohnte! Er erinnerte sich an die Klagen seiner Frau Inka, die nie wusste, was sie vom Metzger holen sollte und vor allem wie viel, denn bei den beiden Kindern konnte man einfach nicht einkalkulieren, ob sie überhaupt frühstückten, und wenn ja, was. Das führte regelmäßig dazu, dass die schmierig gewordene Wurst weggeworfen werden musste und Inka erneut klagte, diesmal über die Schande und das zum Fenster hinausgeworfene Geld. Überhaupt hatte Inka sehr viel geklagt. Daran war auch Leander sicher nicht ganz unschuldig, denn zufrieden war wohl keiner mit dem Alltag in der Familie gewesen. Aber alle hatten sich immer nur auf sich selbst und ihre Ansprüche konzentriert, Leander noch dazu über Gebühr auf seine Arbeit.

      Vor seinem Haus in der Wilhelmstraße steckte der Insel-Bote im Zeitungshalter des Briefkastens. Leander zog ihn heraus und betrat das Fischerhäuschen.

      Nach dem Frühstück überlegte er kurz, ob er die Zeitung in seinem frisch gerodeten Garten lesen sollte, entschied sich aber dagegen. Dort wurde er nur mit der Tatsache konfrontiert, dass er eigentlich mit der Gartenarbeit hätte fortfahren müssen, und dazu hatte er schlicht zu viel Muskelkater und zu wenig Lust. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass Frau Husen sich wieder seiner Arbeitsmoral annahm. Also klemmte er sich die Zeitung unter den Arm und ging zum Park an der Mühle in der Mühlenstraße. Dieses Kleinod hatte ein Künstler angelegt, und zwar nach Kriterien, die so esoterisch wie wirkungsvoll waren. Alles im Park, angefangen bei dem Teich und seiner ihn umgebenden Bepflanzung, über den Brunnen, der aus vier nach den Himmelsrichtungen ausgerichteten gebogenen Rohren Wasser spendete, bis zu dem alles überragenden Storchennest, war nach energetischen Gesichtspunkten gestaltet und sollte den Besuchern Ruhe schenken und die Gelegenheit, ihren Energiehaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Leander jedenfalls konnte hier stundenlang auf einer der Bänke sitzen und lesen oder einfach nur die Libellen beobachten, wie sie einzeln oder in Form eines Paarungs-Rades über den Teich surrten – über sich das Klappern der Störche auf ihrem Nest, um sich herum nur Frieden und Stille.

      Er betrat den Bereich des Parks, der nach Märchen­motiven gestaltet war, und ließ sich auf der schmiedeeisernen Bank nieder. Die Windmühle auf der dem Park gegenüber gelegenen Straßenseite, ein wunderschön erhaltener Galerieholländer, der von Rechtsanwalt Petersen bewohnt wurde, spiegelte sich vollständig auf der glatten Wasseroberfläche zwischen den Seerosen. Nur der Flügel, dessen Stummel jetzt unten rechts feststand, war bei einem der letzten Stürme zum größten Teil abgebrochen. Leander hoffte, dass Petersen genügend Sinn für Geschichte und für Ästhetik hatte, um ihn wieder reparieren zu lassen, auch wenn das eine wenig Gewinn versprechende Investition wäre.

      Über seinem Kopf hob ein lautes Klappern an. Als Leander den Blick hob, sah er zwei Störche auf dem Nest sitzen, das hoch oben auf einer Stange thronte. Die Störche gehörten zum Stadtbild Wyks. Ständig sah man sie in der Luft, auf Hausdächern, auf den umliegenden Wiesen oder bei Ebbe am Strand, wo sie auf Nahrungssuche durch die Priele stolzierten. An einem Abend hatte Leander dreiundzwanzig gezählt, aber es konnten auch mehr sein, zumal sie sich jedes Jahr dank des Schutzes, der ihnen in Wyk gewährt wurde, vermehrten.

      Die Sonne hatte bereits eine erstaunliche Kraft, so dass Leander froh über den Schatten war, der auf eine Hälfte der Bank fiel. Er entfaltete seine Zeitung und informierte sich über die anstehenden Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Stadt. Die entscheidende Woche stand kurz bevor. Neben einem Hafenfest mit großem Höhenfeuerwerk waren Aktionen wie der Bau eines Leuchtturms aus Sand an der Promenade geplant, der sogar ein funktionstüchtiges Leuchtfeuer erhalten sollte. Außerdem wurde ein Open-Air-Konzert der Band Stanfour angekündigt, deren Gründer, die Brüder Rethwisch, von der Insel kamen. Leander beschloss, dies zum Anlass zu nehmen, seine Freundin Lena wieder einmal nach Föhr zu locken.

      Da der Insel-Bote sonst nichts Interessantes zu berichten hatte, schlug er die Zeitung zu und schloss die Augen. Er erinnerte sich an seine ersten Tage und Wochen hier auf der Insel. Es war kalt gewesen, Winter eben, und er hatte sehr viel Energie gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Verdammt, was war er damals fertig gewesen! Auf der Suche nach der Wahrheit über seinen Großvater und seine eigene Familiengeschichte hatte er begriffen, dass er während der letzten vierzig Jahre völlig falschen Idealen und Zielen nachgelaufen war. Er hatte Forderungen erfüllt, die nicht seine eigenen gewesen waren und eigentlich seiner inneren Struktur zuwiderliefen. Kein Wunder also, dass er krank geworden war. Niemals zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob die vorgegebenen Bahnen auch tatsächlich befahren werden mussten. Natürlich mussten sie das nicht, vorausgesetzt man hatte eine Alternative. Mit dem Tod seines Großvaters hatte sich dann dank des üppigen Erbes die große Chance geboten, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Das war eine Stabübergabe im rechten Moment gewesen, vielleicht sogar im letzten.

      Lena hatte zunächst Mühe gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von nun an die meiste Zeit des Jahres getrennt leben würden. Inka und den Kindern hingegen war das vollkommen egal gewesen, was Leander wiederum einen Stich versetzt hatte. Er würde noch einige Zeit brauchen, um den Zeitpunkt nachvollziehen zu können, an dem sie sich so gründlich verloren hatten. Vor allem sein Verhältnis zu seinem Sohn Hanno, der Rechtsanwalt werden wollte, machte ihm zu schaffen, denn es wies große Parallelen auf zu dem Verhältnis, das Leanders Vater Bjarne zu dessen Vater Hinnerk gehabt hatte. Aber auch seine Tochter Pia, die in Kiel Ozeanografie studierte, hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet. Sie ähnelte Inka so sehr, dass sich der Hass ihrer Mutter auf ihren Vater quasi eins zu eins übertragen zu haben schien. Leanders anfängliche Hoffnung, das schon wieder geradebiegen zu können, hatte sich bislang nicht erfüllt. Die kurzen Telefonate mit seinen Kindern waren allesamt unerfreulich verlaufen.

      Wie