Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


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war, den Entschluss, ab sofort die Rekonvaleszenz seines Burn-out-Syndroms zu beenden und in eigener Sache therapeutisch-produktiv tätig zu werden. Er würde jetzt und hier der auf natürliche Weise organisierten Wildnis des Gartens und der Wirrnis seiner Psyche den Kampf ansagen; er würde mit Sichel und Sense zu Werke gehen – für die Astschere war es zum Glück zu spät im Jahr. Und er wollte auch den Umgang mit dem Spaten nicht scheuen, wenn es denn unbedingt nötig würde.

      Er trank den letzten Schluck Kaffee. Das Ausspülen der Tasse bot noch eine kurze Galgenfrist, und auch die Suche nach seinen alten Klamotten in den Untiefen des Kleiderschrankes hatten etwas derart Herauszögerndes, dass sich bereits das schlechte Gewissen zu rühren begann. Doch einige Minuten später stand Henning Leander in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen in seiner Wildnis, die zum Glück noch einigermaßen im Schatten lag.

      Er genoss in der Wärme des Sommermorgens einen Moment lang das Vogelgezwitscher in den Obstbäumen, bevor er sich endgültig einen Ruck gab. Zunächst einmal musste er sich einen Weg durch das hohe Gras zum Schuppen bahnen, ohne die Halme über Gebühr plattzutreten, denn schließlich wollte er sie ja mit der Sense abschneiden, und das ging nur in aufgerichtetem Zustand. Im Kampf mit dem rostigen Schloss der Holztür blieb er Sieger, und auch in der Finsternis des Schuppens, der für einen großgewachsenen Mann wie Leander reichlich niedrig war, wurde er nach einigem Suchen fündig. Natürlich hing die Sense in der hintersten Ecke an der Wand, und einsatzbereit sah sie eigentlich auch nicht aus. Das Blatt war rostig, die Schnittkante schartig, und so suchte Leander nach dem Amboss und dem Dengelhämmerchen, die er dank der Ordnung seines Großvaters auf einem Arbeitstisch rechts neben der Tür fand. Die Drahtbürste entfernte den gröbsten Rost, der Hammer glättete die Schneide einigermaßen. Mit dem Schleifstein zog Leander sie nach und hoffte, dass er das gute Stück am Ende nicht ganz zuschanden gemacht hatte. Schließlich sah sie wieder genauso schartig aus wie vorher, nur schärfer und ein wenig blanker schien sie zu sein.

      Ein erster Test direkt vor der Tür war denn auch so erfolgreich, dass sich Leander mit neuem Schwung und frischer Hoffnung ans Werk machte. Zunächst schnitt er einen Weg vom Schuppen zum Haus frei und nutzte diesen dann als Basislinie für die Expedition in den Dschungel zwischen den Obstbäumen. Leander hatte noch nie mit einer Sense gearbeitet, sein ganzes Wissen stammte aus Heimatfilmen im Fernsehen und einem einigermaßen ausgeprägten Verständnis für Physik und Technik. Und dennoch wirkte der Schwung, den er nach und nach ausfeilte, auf ihn fast schon fachmännisch. Das hohe Gras wich einer holperig geschnittenen Wiese, die gelegentlich eher gerupft aussah, aber immerhin war das Gras nach seinem Einsatz deutlich kürzer als vorher.

      »Das wurde aber auch Zeit!«, hörte er die schneidend eisige Stimme seiner Nachbarin Johanna Husen, die augenblicklich die Vögel zum Schweigen brachte und die Wärme aus dem Garten vertrieb.

      Als er sich umdrehte, erblickte er ihren dürren Hals und ihr Warangesicht direkt über der Ligusterhecke zum Nachbargarten. Johanna Husen war seinem Großvater in treuer und unerbittlicher Nachbarschaft verbunden gewesen und hatte ihm den Haushalt geführt, was allein deshalb viele Jahre gut gegangen war, weil sie den alten Hinnerk vergöttert und er dies zu nutzen gewusst hatte. Nach seinem Tod hatte sie dann keine Mühen gescheut, Leander unmissverständlich klarzumachen, wie er sich in seinem neuen Heim zu verhalten habe, wenn er sich des Andenkens an seinen Großvater würdig erweisen wollte. Dies drohte aber zu scheitern, denn Leander war weder ein alter Mann noch ein kleiner Junge, der sich dies gefallen lassen musste.

      »Guten Morgen, Frau Husen«, antwortete Leander und konnte einen gereizten Unterton nicht unterdrücken.

      »Ich will ja nichts sagen«, strafte sich Frau Husen selbst Lügen, »aber Ihr Herr Großvater ist jetzt gerade einmal ein halbes Jahr tot, und eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an …«

      »Richtig«, warf Leander dazwischen, ohne jedoch für Frau Husen eindeutig auf die erste oder die zweite Aussage abzuzielen.

      »… und im Grunde ist es ja jetzt auch Ihr Garten …«

      »Im Grunde?«, startete Leander einen erneuten Versuch, das Schlimmste abzuwenden.

      »… aber das hat Ihr Großvater nicht verdient«, ließ sich Frau Husen nicht beirren, »dass Sie seinen Garten derart verwildern lassen!«

      »Ich verstehe Ihren Unmut, Frau Husen«, gab sich Leander kleinlaut. »Und wie Sie sehen, bin ich dabei, Abhilfe zu schaffen.«

      »Das wurde aber auch Zeit!«, wiederholte die alte Dame. »Seit einem halben Jahr stehlen Sie dem lieben Gott den Tag, anstatt dafür zu sorgen, dass Ihr Großvater ein ehrendes Angedenken erhält.«

      »Jetzt reicht es aber, Frau Husen«, begehrte Leander nun auf, der wieder einmal erkannte, dass er dem alten Drachen viel zu viel Raum für seinen Angriff gelassen hatte. »Wie Sie richtig bemerkt haben, ist mein Großvater tot. Und dies hier ist nun mein Garten. Entsprechend pflege ich ihn so, wie ich es für richtig halte. Und was das Andenken an meinen Großvater betrifft, steht Ihnen überhaupt kein Urteil zu.«

      Einen Moment lang schien Johanna Husen sprachlos angesichts der Respektlosigkeit dieses jungen Hüpfers ihrem Alter gegenüber. Aber Johanna Husen wäre nicht Johanna Husen gewesen, hätte sie sich lange aus dem Konzept bringen lassen.

      »Das ist ja wohl die Höhe«, rief sie und brachte tatsächlich noch einmal einige zusätzliche Zentimeter an Halslänge zustande. »Eigentum verpflichtet! Haben Sie davon schon einmal etwas gehört? Ihr Unkraut streut seine Samen bis in meinen Garten. Niemals habe ich so viel Löwenzahn in meinem Rasen gehabt wie in diesem Jahr. Was glauben Sie wohl, woher das kommt? Soll ich in meinem Alter noch jeden Tag auf den Knien durch den Garten rutschen und den Löwenzahn ausstechen, der immer wieder von Ihnen herüberweht?«

      »Vielleicht solltest du einfach mal etwas Farbe in deinem Leben zulassen, du graues Gespenst«, murmelte Leander, hütete sich aber, es so laut zu sagen, dass Frau Husen es mitbekam.

      »Was haben Sie gesagt?« Offenbar hatte sie seine Lippenbewegungen gesehen.

      »Ich habe gesagt, dass der Löwenzahn in Ihrem Garten nicht in diesem Jahr gesät worden sein kann. Aber ich werde ab sofort dem lieben Gott nicht nur den Tag, sondern auch die Farben seiner Blumen stehlen, indem ich dem Löwenzahn zu Leibe rücke. Damit das auch von Erfolg gekrönt wird, bitte ich Sie nun, mich weiterarbeiten zu lassen. Einen schönen Tag noch, Frau Husen.«

      Einen Moment lang sah es so aus, als wollte die Frau sich nicht geschlagen geben, aber dann sah sie offenbar ein, dass sie für den Moment das Äußerste erreicht hatte, und zog ihren Kopf langsam wieder ein, was ihrem Hals das Aussehen einer Ziehharmonika gab.

      Kaum war Frau Husens Antlitz hinter der Hecke verschwunden, atmete Leander erleichtert auf und machte sich wieder mit der Sense an die Arbeit. Trotz seiner inneren Bewegung beschloss er, sich den Tag nicht von so einer alten Schreckschraube vermiesen zu lassen. Dafür war die Sonne heute viel zu herrlich, die Wärme kehrte in den Garten zurück, und auch das Vogelgezwitscher hob allmählich wieder an.

      Die Mäharbeit ging Leander erstaunlich flott von der Hand. Bald waren sogar die Baumstämme wieder zu sehen und einige stachelige Himbeersträucher an den Grundstücksseiten wurden sichtbar. Lena würde sich freuen, denn sie war ein Fan selbstgemachter Marmeladen.

      Mein Gott, Lena!, seufzte Leander in Gedanken. Wie lange hatte er seine Freundin schon nicht mehr gesehen! Sie hatten gemeinsam die Umstände des Todes seines Großvaters aufgeklärt. Dann war Lena nach Kiel aufgebrochen und hatte ihren Dienst beim LKA wieder aufgenommen, der noch umfangreicher geworden war, weil der Abteilungsleiter Henning Leander von Bord gegangen war. Nun hatte sie Aussicht auf seine Position, aber dafür kannte sie auch keinen Feierabend und keinen Urlaub mehr, und Leander verstand seine frühere Frau mit einem Mal viel besser. Inka hatte sich nicht zuletzt von ihm getrennt, weil er sie schlicht allein gelassen und nur noch für seinen Beruf gelebt hatte.

      Die Sonne stand inzwischen im Zenit und Leander inmitten der eigenen Schweißströme – Zeit, eine Pause einzulegen und die gute Sitte der Siesta auch im Norden Europas einzuführen. Leander brachte die Sense zurück in den Schuppen und kramte stattdessen ein paar klapperige Gartenstühle und einen Holztisch hervor, die er mitten auf dem Rasen unter einem Apfelbaum