Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


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an und antwortete schließlich: »Und du trittst dann meinen Posten an, was?«

      Ole Paulsen zog bedauernd die Schultern hoch, machte dabei aber ein zufriedenes Gesicht.

      »Sei unbesorgt, Ole«, erklärte Rickmers mit gefährlichem Unterton, »heute Abend mache ich Nägel mit Köpfen. Ich sorge dafür, dass auf der Insel wieder Ruhe einkehrt. Und danach pinkelt mir keiner von euch mehr ans Bein, das schwöre ich dir.«

      Die Polizeibeamten und Günter Wiese sahen zu, wie die Jäger wieder abfuhren. Dann deutete Jörn Vedder auf den toten Bullen. »Wie kriegen Sie den jetzt da raus, Herr Wiese?«

      »Ich arbeite mich mit Brettern vor und lege dem Tier ein Seil um«, antwortete Wiese.

      »Und dann?«, hakte der Polizeibeamte nach.

      »Mit dem Trecker, wie denn sonst? Jetzt sind die Vögel ohnehin einmal aufgescheucht«, erklärte Wiese, steckte seine Hände in die Hosentaschen und schlenderte grinsend auf den Andelhof zu.

      2

      Heinz Baginski, Hobbyfotograf und Hobbyornithologe aus Bottrop, strampelte gegen einen steifen Nordwest durch die Föhrer Marsch in Richtung Boldixumer Vogelkoje. Um den Hals und die linke Schulter hatte er seine digitale Spiegelreflexkamera geschlungen – sein ganzer Stolz, eine Canon EOS 7D, die er erst kürzlich zusammen mit ein paar sündhaft teuren Objektiven erstanden hatte. Ebenfalls um seinen Hals, aber zusätzlich um die rechte Schulter hatte er sich das mehrere Kilo schwere Manfrotto-Stativ gehängt. So diente es als Gegengewicht zu der Kamera, auf der bereits das gewichtige Teleobjektiv steckte.

      Derart professionell ausgerüstet wollte er heute Enten fotografieren, aber nicht irgendwelche Enten, nein, Föhrer Krickenten sollten es sein, und die gab es in der Vogelkoje zu sehen. So hoffte er jedenfalls. Genau wusste er es auch nicht, aber er hatte gelesen, dass früher in diesen Entenfanganlagen Wildenten gefangen und in einer extra dafür auf der Insel aufgebauten Konservenfabrik in die Büchse verfrachtet worden waren. Bis nach Amerika sollte diese Spezialität exportiert worden sein. Sogar beim Captain’s-Dinner auf der Titanic, so heißt es, habe es Föhrer Krickente gegeben – die Folgen sind hinlänglich bekannt. Heute freilich wurden keine Föhrer Krickenten mehr erzeugt, sprich: gefangen, getötet, was bei Enten und Gänsen ringeln heißt, und eingedost. Die Fanganlagen, die sogenannten Vogelkojen – oder Enten­kojen, wenn man es genau nahm –, gab es noch. Einige waren sogar noch in Betrieb, und die Boldixumer Vogelkoje war obendrein zu besichtigen, täglich von zehn bis zwölf Uhr.

      Heinz Baginski war spät dran. Er war nicht zu seinem Vergnügen auf der Insel, jedenfalls nicht vordergründig, sondern in erster Linie seiner Gesundheit wegen. Als Angestellter der Bottroper Agentur für Arbeit war er chronisch überlastet. Zwar arbeitete er nur in der Abteilung für den sogenannten Winterbau, wo die eigentliche Stressphase eher in der kalten Jahreszeit lag, wenn viele Unternehmen Kurzarbeit anmeldeten oder ihre Mitarbeiter vorübergehend entließen, um sie dann im Frühjahr bei besserer Witterung und Auftragslage wieder einzustellen und in der Zwischenzeit den Lohn von der Allgemeinheit der Sozialabgabenzahler entrichten zu lassen. Aber auch das Sommerhalbjahr forderte Heinz Baginski bis an seine physischen und psychischen Grenzen. Dann gab es täglich nämlich nur für etwa zwei Stunden Arbeit, und für den Rest der Zeit mussten er und seine vier Kollegen überzeugend Beschäftigung vortäuschen, damit die Abteilung nicht personell verkleinert wurde. Das war echter Stress, zumal Heinz Baginski unablässig von der Angst geplagt wurde, etwas Unvorhergesehenes könnte in seinen Ruhealltag platzen und eben diese Ruhe für ein oder zwei zusätzliche Stunden gefährden.

      So war er nach fast zwanzig Jahren Arbeitsagentur inzwischen regelrecht ausgebrannt, was zuletzt sogar zu Herzrhythmusstörungen geführt hatte. Sein Arzt hatte ihn dringend gewarnt, er müsse im Urlaub zur Ruhe kommen und jede Überanstrengung oder gar negative emotionale Belastung vermeiden, sonst bestehe unweigerlich die Gefahr eines ›Herzkaspers‹. Dabei hatte der Mann schallend gelacht, wofür Baginski wiederum jedes Verständnis gefehlt hatte. Aber immerhin hatte sein Arzt ihm Seeluft verordnet und bei der Gelegenheit gleich auch Rezepte für Fango, Massagen, Krankengymnastik und manuelle Therapie mitgeliefert.

      Kur-Urlaub nannte man das, was Heinz Baginski hier machte. Morgens ließ er sich zuerst von Ronny Lange in der Mühlenstraße in der Schlickpackung weichkochen, dann kräftig durchkneten und anschließend auch noch craniosacral therapieren. Das war die Kur und dauerte in der Regel eine Stunde. Danach hatte Heinz Baginski für den Rest des Tages frei, also Urlaub. Der Behandlungstermin heute war erst um halb zehn gewesen, und deshalb musste er jetzt ordentlich in die Pedale treten, wenn er die Vogelkoje noch geöffnet vorfinden wollte.

      Der Wind fand dank der Körperfülle des Bottropers reichlich Angriffsfläche und drückte die Geschwindigkeit, zu der Heinz Baginski in der Lage war, hart in den einstelligen Stunden­kilo­meterbereich. Überall an der alten Klapperkiste, die er sich heute Morgen gemietet hatte, quietschte es, aber zum Glück dämpfte das Rauschen des Windes an Baginskis Ohren die nervigen Geräusche etwas. Die Fahrradkette rasselte, als hätte sie schon einige zehntausend Kilometer auf den Gliedern.

      Jetzt bloß nicht abspringen!, dachte Heinz Baginski. Bloß nicht reißen jetzt!

      Außerdem musste er seine ganze Kraft und Energie aufbringen, um mit der alten Mühle voranzukommen, denn die hatte nur drei Gänge, von denen die ersten beiden kaputt waren, also nicht reingingen. Und so strampelte Heinz Baginski mit reichlich Ballast behängt im dritten Gang gegen den Wind und schwor sich, den stoffeligen Fahrradverleiher umzubringen, oder wenigstens zu teeren und zu federn, wenn er heute Nachmittag wieder in Wyk war.

      Doch Heinz Baginski wollte sich seine gute Laune nicht nehmen lassen, denn schließlich standen ihm spektakuläre Entenfotos bevor. Außerdem geisterte seit heute Morgen ein Schlager seiner Namensvetterin – oder sagte man Namenscousine? – in seinem Kopf herum, die zwar nicht Heinz hieß, sondern Gaby, aber immerhin Baginsky. Und das verband schließlich, wie Heinz fand, und verpflichtete zu besonderem Interesse und zur Wahrung des Kulturgutes, das sie überwiegend vor dreißig Jahren erfolgreich und vielfältig produziert hatte. Den Schönheitsfehler mit dem Y am Ende ihres Namens verzieh er ihr großmütig.

      Je anstrengender es wurde – der Wind schien kontinuierlich zuzunehmen –, desto schwerer fiel es Heinz, sich auf den Schlager zu konzentrieren, und so begann er nun damit, ihn zunächst nur zu summen, schließlich aber laut gegen das Rauschen an seinen Ohren vor sich hin zu schmettern: »Fahr zur Hölle, komm nie wieder zurück!« Dabei bemühte er sich um eine möglichst originalgetreue Quietschstimme, denn Heinz war nicht nur kulturbeflissen, er hielt auch auf Authentizität: Wenn er schon einen Schlager von seiner Lieblingssängerin Gaby Baginsky schmetterte, dann wollte er auch klingen wie Gaby Baginsky. Dummerweise waren der Wind und die Fahrradkette so laut, dass er sein eigenes Wort kaum verstehen konnte, obwohl er aus voller Kehle sang. Seine Stimme war nämlich nicht gerade tragend, was er selber für einen Fluch, seine Freunde und Verwandten aber für einen Segen hielten.

      Derart seiner knappen Atemluft beraubt, näherte sich Heinz Baginski mit hochrotem, fast bläulichem Kopf der Boldixumer Vogelkoje. Es war zwanzig Minuten nach elf, also immer noch Zeit genug, um sich einen Überblick zu verschaffen, sein Stativ aufzubauen und ein paar original Föhrer Krickenten im Großformat abzulichten.

      Er sprang vom Fahrrad, allerdings nicht, ohne sich mit dem Stativgurt am Sattel zu verheddern und vom Gewicht des alten Rostesels zu Boden geworfen zu werden. Derartige Seitenhiebe aus der Mitte des Lebens war Heinz Baginski gewohnt, und sie waren nicht dazu angetan, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen – zumindest nicht seelisch. Er rappelte sich wieder hoch, überlegte kurz, ob er die Zeit investieren sollte, um mit dem verrotteten Fahrradschloss zu kämpfen, verwarf dies aber nach einem erneuten Blick auf die Uhr und machte sich auf den Weg über die Klappbrücke ins Innere der Vogelkoje.

      Zunächst musste er durch einen Tunnel aus Büschen und Bäumen, der direkt auf das Kojenwärterhaus zu führte. Dort stand ein älterer Mann mit einer Bauchtasche und harrte der Dinge, die da kamen. Nun kam Heinz.

      »Einmal?«, fragte der Mann, und Heinz Baginski nickte, denn zu einer Antwort reichte sein Atem noch nicht aus.

      »Das Geld kommt in den Topf da vorne«,