Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


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aushalten, und auch der Blick in den Garten um sich herum gestaltete sich nun viel erfreulicher als noch am Morgen. Wenn erst einmal das abgeschnittene Gras zu Heu getrocknet und zusammengeharkt war, konnte Leander den Rasen mit dem alten Handmäher kurz halten, den er im Schuppen entdeckt hatte. Er beschloss, von nun an so viel Zeit wie möglich in der windgeschützten Ruhe seines Gartens zu verbringen. Leander lehnte sich zurück, dachte noch, dass er sich vielleicht um einige bequemere Stühle und Liegen kümmern sollte, und war schon eingeschlafen, bevor er deren Kauf planen konnte.

      Heinz Baginski strampelte mit seiner Rostlaube bei heftigem Seitenwind schlingernd den Deich entlang, stieg vor jedem Gatter ab, um sein Rad durch die federbewehrten selbstschließenden Holztore zu schieben – wobei er einmal fast erschlagen worden wäre –, und erreichte nach einiger Zeit das Vorland. Lahnungen erstreckten sich rechter Hand in den Schlick des Wattbodens, um ebendiesen bei jeder Flut aufzustauen, bis neues Land gewonnen war. Hier würde sich zunächst der Queller ansiedeln, um erneut Sand abzufangen, und dann der Strandhafer und der Strandflieder, der die Salzwiesen lila einfärbte. Von Seevögeln war jedoch weit und breit nichts zu sehen – die waren weit draußen im Watt, denn es war Niedrigwasser, und damit war dort die Tafel für sie reich gedeckt.

      Heinz Baginski fuhr weiter bis zum Infowagen der Schutzstation Wattenmeer und informierte sich dort an Bildertafeln über die verschiedenen Limikolen, die hier heimisch waren – das war der Fachbegriff für alle Watvögel, die so hießen, weil sie durch den Schlick des Watts wateten und Würmer und sonstiges Getier darin suchten. Hin und wieder flogen Austernfischer in Kleingruppen laut pfeifend über den Deich, so dass Heinz Baginski wenigstens ein paar Fotos schießen konnte und nicht vergeblich hierher geradelt war. Dergestalt vertrieb er sich die Zeit bis gegen sechzehn Uhr und ignorierte den aufsteigenden Hunger und vor allem den Durst, denn er hatte nichts zu trinken dabei. Schließlich hatte er ja nicht ahnen können, dass aus einem vormittäglichen Kojenbesuch ein Ganztagesausflug würde. Dann machte er sich auf den Rückweg, in der Hoffnung, die Fanganlage nun verlassen vorzufinden.

      Zunächst hatte er jedoch wieder gegen den Wind zu kämpfen, denn der hatte sich gedreht. Das war Heinz Baginski gewohnt: An der See kam der Wind merkwürdigerweise immer von vorn, egal, in welche Richtung man radelte.

      Gegen siebzehn Uhr dreißig war er wieder an der Boldixumer Vogelkoje, die jetzt friedlich und verlassen hinter dem Deich in der Marsch lag. Heinz schob sein Fahrrad auf die Weide an der Seite der Koje – es musste schließlich niemand, der vorbeiradelte, sehen, dass dort jemand widerrechtlich eingedrungen war. Dann huschte er über die Straße zurück zum Eingang, um dort entsetzt festzustellen, dass die Klappbrücke ihrer Funktion gemäß hochgeklappt war. Als wäre das noch nicht genug, ragte auf der anderen Seite des Grabens, der die Vogelkoje umgab, ein seitlich mit Stacheldraht bewehrtes Tor fest verschlossen vor ihm auf.

      »Mist«, fluchte Heinz, denn daran hatte er nicht gedacht.

      Was sollte er nun tun? Unverrichteter Dinge nach Wyk zurückradeln? Morgen wiederkommen und noch einmal Eintritt zahlen, nur um erneut von nervigen Blagen am Foto­grafieren gehindert zu werden? Nichts da! Er würde einen Zugang finden, und dann hätte er Stunden Zeit, um die Föhrer Krickente dahin zu bekommen, wo sie hingehörte: auf den CCD-Chip seiner Spiegelreflex.

      Also ging Heinz Baginski zurück und umrundete die Vogel­koje bis zu ihrer Rückseite. Wenn bloß niemand auf dem Deich vorbeikam und ihn entdeckte! Aber da war weit und breit kein Mensch zu sehen. Und jetzt tat sich vor ihm die große Chance auf: Hinter dem Stacheldraht öffnete sich eine Schneise im Gebüsch, die aussah, als würde sie dem ansässigen Wild regelmäßig als Zugang dienen. Heinz pfiff in verwegener Vorfreude Gabys Hit »Es kann mit vierzig wie mit zwanzig sein« leise vor sich hin, schob sein Stativ auf den Rücken, damit es ihn nicht störte, und setzte zum Sprung über den Graben an. Er kam auch an der gegenüberliegenden Seite sauber auf. Sein Oberkörper wurde aber vom Gewicht seiner Ausrüstung so weit zurückgezogen, dass er abglitt und langsam rückwärts mit seinen Schuhen in den Graben rutschte. Kalter, nasser Schlick quoll an seinen Knöcheln durch die Strümpfe, schwappte an seinen Waden hinauf bis zum Hintern und erzeugte ein Gefühl, als sei Heinz Opfer einer unangekündigten Durchfallattacke geworden.

      ›Es kann mit vierzig wie mit achtzig sein‹, wäre jetzt passender gewesen, aber den Frevel verkniff sich Heinz zugunsten eines saftigen Fluches, um dann mühsam und auf allen vieren den glitschigen Hang hinauf zurück zum Zaun zu klettern. Nun befand er sich auf der richtigen Seite des Grabens und brauchte nur noch dem Trampelpfad durch das ansonsten dichte Gebüsch zu folgen. Kurz darauf gelangte er seitlich an das Wärterhäuschen, das einsam und offensichtlich verschlossen dalag. Von hier aus folgte er dem offiziellen Weg an der Pfeife vorbei zum Teich, erklomm die Stufen und fand sich auf dem Aussichtsplateau wieder. Und da waren sie: Die Enten schwammen im Pulk über die schwarzgrüne Wasserfläche. Nur die schwarze Ente war nicht dabei. Alles bloß Stockenten. Das durfte doch nicht wahr sein! Da hatte Heinz Baginski den ganzen Tag vertrödelt, seine Schuhe und seine Hose ruiniert, seine teure Ausrüstung dabei aufs Spiel gesetzt, und nun das! Wahrscheinlich war die einzige Wildente aus der Vogelkoje inzwischen schon wieder zu ihren Artgenossen irgendwo da draußen im Watt oder in der Marsch aufgebrochen. Oder der Kojenschimanski hatte sie geringelt und zum Abend­essen mit nach Hause genommen.

      Aber da hörte Heinz Baginski aus dem Gestrüpp an der Seite des Teiches ein Pfeifen, das nicht von einer Stockente kommen konnte. Das musste eine Krickente sein, und wenn er ganz großes Glück hatte, war es vielleicht sogar eine Pfeif- oder eine Knäkente. Er schlang Kamera und Stativ von den Schultern und baute alles wieder so auf, wie er es am Vormittag bereits vergeblich getan hatte. Dann brachte er sein Jagdgerät in eine günstige Schussposition und legte sich auf der Bank im Sichtschutz des Geländers auf die Lauer.

      Die Stockenten glitten langsam über den Teich, keine Welle bewegte das schwarzgrüne Tümpelwasser, die Sonne senkte sich langsam hinter die hohen Baumkronen, im Schatten der Bäume war es windstill und warm. Er spürte die Schwere seiner abgestrampelten Glieder und den Krampf, der sich gerade in seiner rechten Wade bildete, erinnerte sich an die progressive Entspannungstechnik nach Jacobsen, schloss die Augen, atmete tief in seinen Bauch ein, spannte zuerst seine Füße an, entspannte sie dann wieder, ging zu den Waden über, fühlte sich in seine Muskulatur hinein, die Insekten summten eintönig um ihn herum, der Krampf verschwand, die Lider wurden ihm schwer … und Heinz Baginski schlummerte ein.

      Ein Schrei riss ihn aus dem Traum, in dem er in den Weiten der Salzwiesen Dutzende von Pfeif-, Knäk- und Krickenten fotografiert hatte, und Heinz brauchte einen Augenblick, bis er wusste, wo er sich befand. Vor ihm lag der Teich im Dunkel der heraufziehenden Nacht. Im Mondlicht hatten die Enten ihre Köpfe unter das Gefieder gesteckt, und Heinz erkannte, dass er seine Chance erneut verpasst hatte. Jetzt musste er unverrichteter Dinge seine Ausrüstung wieder abbauen und durch den nächtlichen Forst der Vogelkoje zurück zum Zaun und zu seinem Fahrrad finden, möglichst ohne erneut in den Graben zu rutschen. Als er sich mit schmerzenden Gliedern von der harten Bank erhob, merkte er, dass der Schlick in seinen Socken inzwischen hart geworden war und die Gelenke an einer glatten und runden Bewegung hinderte. Er zog die Schuhe und die Socken aus und klopfte zunächst die harte Kruste aus der Baumwolle, bevor er die widerspenstigen Dinger wieder anzog.

      Da ertönte zum zweiten Mal ein gellender Schrei, der Heinz daran erinnerte, warum er überhaupt aufgewacht war, und ihm einen Schauer über den Rücken jagte, so dass er trotz der lauen Sommernacht unvermittelt fröstelte. Das war aus der Richtung des Kojenwärterhäuschens gekommen. Er brauchte noch einige Augenblicke, um Mut zu fassen, dann stand er leise auf und stolperte durch die Dunkelheit die Treppe hinab und an der Pfeife vorbei bis zum Haus. Vorsichtig glitt er an der Seite entlang nach vorne, versuchte durch das Fenster, das so verschmutzt war, dass es gerade noch einen matten Lichtschimmer von innen durchließ, vergeblich einen Blick in die Hütte zu erhaschen, und erreichte die Tür in dem Moment, in dem sie von innen aufgestoßen und ihm mit voller Wucht vor den Kopf geknallt wurde. Heinz Baginski strauchelte und wurde von einer schwarzen Gestalt, die aus dem Haus stürzte, zu Boden gerissen. Es dauerte einige Schrecksekunden, bis er sich wieder gesammelt hatte. Er versuchte sich mühsam aufzurappeln, und da – im Bruchteil einer Sekunde – glaubte er gar, aus den Augenwinkeln noch einen zweiten Schatten wahrzunehmen, der dem ersten folgte. Aber das konnte auch die Folge des Kopfstoßes sein, der ihn quasi