Thomas Breuer

Leander und die Stille der Koje


Скачать книгу

offenbar nicht ganz bei sich. Hat mich gefragt, ob das nicht Zeit bis morgen habe, er wolle sich gleich mit seiner Freundin treffen.«

      »Da müssen Sie sich nichts bei denken«, mischte sich Obermeister Jörn Vedder ein. Er saß mit hinter dem Kopf verschränkten Händen an seinem Schreibtisch und vermittelte den Eindruck eines gemütlichen Beamten, den nichts aus der Ruhe bringen konnte, jedenfalls nicht vor dem Feierabend.

      »Ach, muss ich das nicht? Finden Sie es normal, dass der Sohn eines Mordopfers Wichtigeres zu tun hat, als mit der Polizei zu reden?«, fuhr Dernau auf.

      »Normal …!«, entgegnete Vedder in demselben gemütlichen Ton wie vorher. »Was ist schon normal? Maarten Rickmers jedenfalls nicht, das ist ein arroganter, verwöhnter Rotzbengel. Hat von seinem alten Herrn immer alles hinten reingeschoben bekommen. Sie müssten mal das Auto sehen, das der schon mit achtzehn Jahren fährt: Mercedes Geländewagen. So was kann ich mir bis zur Pensionierung nicht leisten, und danach wahrscheinlich erst recht nicht. Aber mal abgesehen davon: Hätten Sie Lust, mit der Polizei zu reden, wenn Sie sich stattdessen mit Ihrer Freundin treffen könnten?«

      »Da hat er recht«, stimmte Bennings zu. »Andererseits können wir auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Und? Was hast du dem Bengel geantwortet?«

      »Dass wir ja eigentlich vorgehabt hätten, ihn zu Hause aufzusuchen. Aber nun hätte ich dazu plötzlich auch überhaupt keine Zeit mehr, und er solle seinen Hintern in Bewegung setzen und sofort hier erscheinen, sonst würde ich unseren Chef zu ihm schicken, und der könnte ganz schön ungemütlich werden.«

      »Ihren Chef?«, erkundigte sich Vedder. »Ist der denn auch hier auf Föhr?«

      »Ist er«, klärte Dernau ihn auf. »Herr Hinrichs. Jedenfalls hält Frau Rickmers ihn für unseren Chef.«

      Vedder lachte laut auf und konnte sich auch nicht wieder einkriegen, als Bennings ihn nach einem Kartenlesegerät fragte. Er winkte nur ab, griff in eine Schublade und zog ein kleines Kästchen heraus, das er Bennings zuwarf.

      »Wo ist Hinrichs eigentlich?«, erkundigte sich der.

      »Hat sich in den Feierabend verabschiedet, nachdem Sie ihn Cappuccino holen geschickt haben. Das ging ihm dann wohl doch zu weit«, antwortete Vedder grinsend. »Außerdem hat er ab achtzehn Uhr ja wieder Dienst. Da sollte er sich wirklich vorher etwas ausruhen. Sonst ist der nämlich unerträglich.«

      Bennings und Dernau lachten und wandten sich wieder dem Nebenraum zu.

      »Hinrichs und Chef der Mordkommission«, hörten die beiden Kriminalbeamten den Polizeibeamten noch sagen, als sie schon wieder in ihrem Büro waren, »das ist wirklich klasse! Der findet im Dunkeln nicht mal seinen eigenen Arsch, wenn ich ihm nicht die Kerze halte.«

      Dernau grinste breit und schloss die Tür hinter sich. »Unser Freund Vedder kennt seinen Chef aber gut.«

      »Kein Wunder, arbeite du mal jahrelang mit so einer Flitzpiepe zusammen«, kommentierte Bennings und fügte vorsichtshalber hinzu: »Kein falsches Wort jetzt! Hüte deine Zunge!«, bevor Dernau zu einem Kalauer gegen ihn ansetzen konnte.

      Bennings schloss das Kartenlesegerät an seinen Laptop, wartete kurz die Installationsroutine ab und steckte die CF-Karte in den passenden Schlitz. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Auswahlmenü. Einige Klicks weiter war Bennings in dem Ordner mit den Fotos, die Baginski am Vorabend geschossen hatte.

      »Oha«, kommentierte Dernau. »Und der Mann will Naturfotograf sein? Alles verwackelt, von den Viechern erkennt man ja rein gar nichts. Und total unterbelichtet, das ist dunkel wie im A…«

      »Ist ja gut«, ging Bennings dazwischen, »jetzt krieg dich mal wieder ein.«

      Er klickte das erste Foto an, das Baginski im Kojenwärterhäuschen geschossen hatte. Zum Glück war so eine Hütte kein bewegliches Ziel. Entsprechend scharf waren wenigstens diese Fotos geworden. Auf dem Bildschirm erschien ein kleiner Raum mit weiß getünchten Wänden. Links an der Wand stand unter einem Fenster ein kleiner Schreibtisch, dahinter ein Regal mit Aktenordnern. Rechts füllte ein Bett fast die ganze Wand aus. Das Bettzeug war durchgewühlt, am Rand ließen sich rote Spritzer und verwischte Streifen erkennen, wahrscheinlich Blut. Vor dem Bett lag auf dem Holzboden der Tote in merkwürdig gerader Haltung auf dem Rücken, als sei er aufgebahrt worden. Nur die Hände hatte man ihm nicht wie zum Gebet auf der Brust verschränkt. Sonst war nichts Auffälliges zu entdecken.

      »Sieht nicht gerade spektakulär aus«, fand Dernau. »Wahrscheinlich hat er mit dem Schlag nicht gerechnet, jedenfalls sehe ich keine Kampfspuren. Er hat einen mitgekriegt, ist lang hingeschlagen und genau so liegen geblieben.«

      »Dann hätte der Schlag von vorne kommen müssen. Es sieht aber so aus, als sei er von hinten niedergeschlagen worden. Dann ist er am Bett entlang nach unten gerutscht. Also müsste er auf dem Bauch oder auf der Seite liegen oder vor dem Bett sitzen, oder? Auf keinen Fall kann er so da liegen wie auf diesem Foto, parallel zum Bett und so entspannt und geradezu bequem gelagert.«

      Dernau nickte. »Vielleicht hat der Täter ihn durchsucht, oder er konnte einfach nicht ertragen, dass Rickmers so verdreht auf dem Boden lag.«

      »Ersteres deutet auf Raubmord hin«, überlegte Bennings. »Letzteres weist eher auf eine Beziehungstat hin und auf Totschlag im Affekt, jedenfalls nicht auf kaltblütigen Mord.«

      »Es sei denn, der Täter ist ein Anfänger und hat die Sache zwar genau geplant, dabei aber nicht bedacht, dass so eine Leiche einem schon auf den Magen schlagen kann, wenn sie dann wirklich vor einem liegt.«

      Bennings nickte und klickte sich durch die nächsten Bilder, bis es draußen im Wachraum laut wurde.

      Vedder öffnete die Tür mit den Worten »Sie haben Besuch!« und schob einen jungen Mann im Alter von vielleicht achtzehn oder höchstens neunzehn Jahren herein. Bennings fand den Burschen auf Anhieb unsympathisch. Er trug ein sportliches Outfit aus teuren Markensachen. Damit hob er sich sicher deutlich und bewusst von seinen Altersgenossen hier auf der Insel ab. Seine feinen Gesichtszüge machten ihn garantiert zu einem Mädchenschwarm erster Güte. Dabei umspielte ein arroganter Zug seine schmalen Lippen, momentan gepaart mit Wut über die Unverschämtheit, dass man es wagte, ihn derart herumzukommandieren.

      Vedder schloss die Tür wieder lautstark hinter dem Jüngling, der mit hochrotem Kopf vor den Kommissaren stand und gerade wieder lostoben wollte, als Bennings sich erhob und freundlich, aber bestimmt auf ihn zu trat. »Sie müssen Maarten Rickmers sein. Mein herzliches Beileid zum Verlust Ihres Vaters. Bitte, nehmen Sie doch Platz, wir haben einige Fragen an Sie. Wird bestimmt nicht lange dauern. Ich kann mir vorstellen, dass Sie an so einem Tag lieber Ihrer Mutter beistehen würden, aber es geht leider nicht anders.«

      Das stoppte den Zorn des Knaben, und er schien sich schlagartig bewusst zu werden, dass er als trauernder Sohn nach dem Auftritt eben nicht mehr durchgehen würde. Jedenfalls entfärbte sich sein Gesicht wieder leicht und nahm einen etwas verlegenen Ausdruck an. Dabei hob er die Hände mit einander zugewandten Handflächen leicht an und ließ sie wieder sinken, was wohl beschwichtigend wirken und ihn harmlos erscheinen lassen sollte. »Schon gut, Sie machen ja auch nur Ihre Arbeit.«

      »So ist es. Also, Herr Rickmers, wir fragen uns, was Ihr Vater gestern Abend so spät in der Vogelkoje gemacht hat. Haben Sie vielleicht eine Erklärung?«

      »Ja klar, abends werden immer die Enten vom Teich ins Gehege geholt.«

      »Und dafür ist Ihr Vater zuständig?« Bennings Ton verriet, dass er das wenig glaubwürdig fand. »Ich denke, dafür gibt es einen Kojenwärter?«

      »Ja, schon, aber mein Vater war oft in der Vogelkoje. Er hat das gern gemacht, hat seine Aufgabe als Jäger immer sehr ernst genommen, und dazu gehört ja auch die Hege des Wildes.«

      »Ihre Mutter hat uns erzählt, dass Ihr Vater gestern Abend einen wichtigen Termin gehabt habe. Wissen Sie etwas davon?«

      Maarten Rickmers schüttelte den Kopf, überlegte aber dabei und antwortete schließlich: »Mein Vater hatte oft Termine, manchmal auch spät abends, geschäftliche und solche, die mit seiner Position in der Jägerschaft