stieg aus, um die Tür an ihrer Seite zu öffnen. Sorgsam führte er sie bis zur Haustür der Villa, die sich sogleich öffnete. Barbara hatte bereits gehört, dass der Wagen gekommen war.
»Auf morgen, Frederik. Dank für alles.«
»Du brauchst mir nicht zu danken. Leb wohl, Anita. Gute Nacht, Frau Barbara.«
Anita umarmte die Haushälterin und blickte den roten Schlusslichtern von Frederiks Wagen mit Tränen in den Augen nach. »Ich liebe ihn, Barb. Endlich weiß ich, dass das Leben wunderbar sein kann.«
Barbara zog sie in die Diele und verschloss die Tür. Dann führte sie Anita die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, wo sie sie auszog wie ein kleines Mädchen.
»Lege den Ring hier neben mein Bett auf den Nachttisch«, bat Anita schlaftrunken. »Wenn ich aufwache, werde ich ihn als erstes sehen und an Frederik denken.«
Barbara hängte das Kleid auf einen Bügel, schaffte mit ein paar Handgriffen Ordnung und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer, denn Anita war bereits eingeschlafen. Der prachtvolle Ring leuchtete geheimnisvoll neben ihrem Kopf unter der Bettlampe.
*
Sibylle fuhr nun jeden Morgen mit dem roten Bus in die Schule, denn die Ferien waren zu Ende. Sie war ins zweite Volksschuljahr aufgenommen worden und kam im Unterricht gut mit. Seit sie ihre Liebe zum Klavierspiel entdeckt hatte, gab es keine Schwierigkeiten mehr für das lebhafte, intelligente Kind. Sibylle war mit allen Kindern in Sophienlust ein Herz und eine Seele. Auch in der Schule fand sie sofort Kontakt zu den Kindern aus der näheren Umgebung. Sie gab sich frei und offen. Die frühere Schüchternheit war von ihr abgefallen wie ein alter abgetragener Mantel. Sie lernte leicht und passte sich dem neuen Unterrichtssystem mühelos an.
Einmal kam die treue Barbara für ein Wochenende zu Besuch und wollte ihren Augen nicht trauen, als Billchen ihr sonnengebräunt und glückselig entgegengelaufen kam.
Billchen spielte ihr auf dem großen Flügel vor, und Barbara rannen ein paar Tränen über die Wangen.
»Jetzt würde Tante Anita nicht mehr sagen, dass es ein Geklimper ist, Barb«, stellte das Kind fröhlich fest.
»Gewiss nicht, Billchen. Ich glaube, du spielst sogar besser als deine Mutter. Sie fing erst mit zehn oder elf Jahren zu spielen an. Du bist ja erst sieben.«
»Ich werde im Herbst schon acht«, rief Sibylle eifrig aus. »Weißt du, ich möchte spielen wir eine richtige Künstlerin. Herr Rennert hat mir Schallplatten vorgespielt. Es gibt Konzerte für Klavier und Orchester. Berühmte Männer haben die Noten geschrieben. Wenn ich groß bin, will ich diese Stücke selbst spielen.«
»Du hast dir viel vorgenommen. Aber mach nur so weiter.«
Barbara sprach mit Denise von Schoenecker und Frau Rennert, natürlich auch mit Wolfgang Rennert, der Billchen so liebevoll unterrichtete. Als sie abreiste, nahm sie die Gewissheit mit, dass Sibylle in Sophienlust ein glückliches Kind geworden war.
*
Am Samstag darauf hatte Sibylle ein großes Erlebnis und eine entscheidende Begegnung. Es fing damit an, dass Andrea von Lehn ihrem Vater mitteilte, dass sie leider nicht mit zum Konzert nach Frankfurt fahren könne, weil Peterle nicht ganz in Ordnung sei. Frau Dr. Frey habe zwar versichert, dass kein Grund zur Sorge bestehe, doch wolle sie ihr Söhnchen nicht allein lassen, so zuverlässig ihre Hausgehilfin Betti auch sein möge.
Alexander von Schoenecker wollte daraufhin mit seinem Schwiegersohn sprechen. »Mutti und ich hatten uns auf diese Familienfahrt so gefreut«, seufzte er. »Kommst du wenigstens mit, Hans-Joachim?«
Der junge Tierarzt zögerte. Es widerstrebte ihm, Andrea allein zu lassen. Andererseits mochte er seine Schwiegereltern nicht enttäuschen.
Alexander hörte im Hintergrund die Stimme seiner Tochter.
»Natürlich fährst du mit, Hans-Joachim. Du musst mir dann erzählen, wie das Konzert war.«
»Ich komme also mit, Vater«, ließ sich Hans-Joachim vernehmen. »Andrea will es selbst. Aber ihre Karte bleibt übrig.«
»Wir werden sehen, was sich tun lässt, Hans-Joachim«, meinte Alexander. »Vielleicht möchte Carola Rennert mitfahren. Sie kommt wenig aus dem Haus, seit sie ihre Zwillinge hat. Sie braucht mal eine Abwechslung und Anregung.«
Hans-Joachim von Lehn verabschiedete sich und kehrte eiligst in seine tierärztliche Praxis zurück. Alexander von Schoenecker aber benachrichtigte Denise. Diese wandte sich an Wolfgang Rennert und lud Carola, seine junge Frau, zu dem Konzert ein.
Doch Wolfgang Rennert machte einen Gegenvorschlag. »Wie wäre es, wenn Sie Sibylle mitnehmen würden, Frau von Schoenecker?«
»Ist sie nicht noch zu klein dafür? Zwei Stunden klassische Musik ist für ein Kind eine ganze Menge. Dazu kommt die weite Fahrt. Wir wollen Billchen nicht überfordern.«
Wolfgang Rennert überlegte kurz. »Ich weiß, dass sie schrecklich gern mal ein Konzert hören möchte, Frau von Schoenecker. Da es sich diesmal um das Auftreten eines international bekannten Pianisten handelt, möchte ich Sibylle dieses Kunsterlebnis gönnen. Thilo Bach spielt doch, nicht wahr?«
»Ja, das ist richtig.«
Denise suchte Carola Rennert auf, bewunderte das Zwillingspärchen im Laufstall und trug ihr das Problem vor.
Carola redete ihr zu, das Kind mitzunehmen. »Ich erinnere mich gut, wie stark mich als kleines Mädchen die Bilder großer Meister angesprochen haben, Tante Isi. Unser Billchen besitzt ein ungewöhnliches Musiktalent. Ein berühmter Künstler wie Thilo Bach kann ihr wahrscheinlich mehr vermitteln als der beste Unterricht.«
Denise schloss sich der Meinung des jungen Ehepaares an. »Also gut. Soll unser kleines Klavierwunder mitfahren. Sibylle kann schließlich auf der Rückfahrt im Auto schlafen.«
So waren die Würfel gefallen. Sibylle wurde vor Freude ganz blass, als sie erfuhr, dass sie mit dem Ehepaar von Schoenecker und Dr. von Lehn ins Konzert gehen dürfe.
Schwester Regine suchte Billchens schönstes Sonntagskleid heraus und bürstete das Haar des Kindes, bis es schimmerte wie Seide.
Im Konzertsaal traf das bildhübsche Kind manch verwunderter Blick. Sibylle war mit Abstand die jüngste Besucherin. Sie hatten Plätze in der vordersten Reihe, sodass Billchen nicht nur hören, sondern auch sehen konnte, was auf dem Podium vor sich ging. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen betrachteten sie den großen Konzertflügel. Das Stimmen der vielen Instrumente des Orchesters verfolgte sie mit wacher Aufmerksamkeit. Dann betrat Thilo Bach mit dem Dirigenten das Podium. Beifall rauschte auf. Doch Sibylle klatschte nicht. Sie wartete nur auf die Musik.
Es wurde still im Saal. Der Dirigent hob den Stock, die Künstler richteten die Blicke auf ihn, bereit für ihren Einsatz. Das Kind tat einen tiefen Atemzug, als die Musik begann. Es blickte unverwandt auf den Pianisten, der seinem Instrument die herrlichsten Tonfolgen entlockte. Seine Hände schienen kraftvoll und doch zart. Sibyllchen war wie gebannt.
Aber auch die übrigen Zuhörer konnten sich der Zauberkraft von Thilo Bachs Spiel nicht entziehen. Wieder einmal versetzte er sein Publikum in eine andere Welt, riss jeden einzelnen mit und erfüllte die Musik der großen Meister mit pulsierendem Leben.
»Gefällt es dir?«, fragte Denise flüsternd am Ende des ersten Satzes und legte den Arm um Billchens Schultern.
Das Kind gab keine Antwort. Es schien die Frage gar nicht gehört zu haben.
Der zweite Satz folgte. Es war ein Klavierkonzert von Robert Schumann, meisterhaft vorgetragen. Alexander von Schoenecker griff nach der Hand seiner geliebten Frau. Dr. Hans-Joachim von Lehn dachte an Andrea und wünschte, sie säße jetzt an seiner Seite. Doch als er zu dem Kind hinüberschaute, begriff er, dass diese erste Begegnung mit einem großen Künstler für Sibylle von großer Bedeutung war. Noch nie hatte er auf einem Kindergesicht eine solche Seligkeit erblickt.
Nach Schumann stand Chopin auf dem Programm. Danach kam die Pause. Alexander und Denise hatten Bekannte