Barbara die beiden Koffer auspackte, staunte sie über die jähe Wandlung von Anitas Geschmack. Die leichten Seidenkleider nahmen sich wie bunte Schmetterlinge aus. Die drei Bikinis waren so winzig, dass Barbara sich fragte, ob man so etwas überhaupt tragen könne, ohne es zu verlieren. Die Absätze an den Schuhen hatten eine extravagante Höhe, und sogar die Wäsche war neu, verspielt und elegant.
Nun konnte es für Barb nicht mehr den geringsten Zweifel geben, dass Anita durch die Liebe verwandelt worden war. Sie ließ die Finger über den zarten Stoff eines Kleides gleiten und lächelte. Carola hätte sich auch solche Sachen gekauft, dachte sie. Ich bin froh, dass Anita glücklich ist.
Nur an Sibylle mochte Barb nicht denken. Zwar konnte es kaum ein besseres Heim als Sophienlust geben, doch musste Carolas Kind von jetzt an verleugnet und totgeschwiegen werden. Das widerstrebte der guten Barbara gewaltig.
Eben kam Anita aus dem Bad zurück. Sie trug einen Hausmantel und duftete nach köstlichem Badeöl.
»Was ist mit Sibylle?«, fragte sie, als habe sie Barbaras Gedanken erraten. »Ist alles in Ordnung? Ich werde Frau von Schoenecker anrufen, damit sie merkt, dass ich Anteil an Sibylle nehme. Erzähle mir von dem Heim.«
»Es ist ein Gutshaus. Die Kinder leben auf dem Land und sind glücklich, obwohl die meisten von ihnen schon ein schweres Schicksal hinter sich haben. Frau von Schoenecker ist eine ganz ungewöhnliche Dame. Man gewinnt sofort Vertrauen zu ihr. Trotzdem hat sich Billchen nicht gleich einleben können. Ich bin eine Woche lang dort geblieben. Als ich abreiste, hat Billchen mich nur traurig angeschaut und nicht einmal geweint. Das Kind tut mir so leid. Hier in der Schule sagte die Lehrerin zu mir, dass sich Sibylle nicht an die anderen anschließen kann und immer allein im Schulhof herumsteht in der Pause. In Sophienlust war es kaum anders. Billchen sah zu, wenn die Kinder spielten, ritten oder herumtobten. Sie antwortete, wenn man sie etwas fragte, aber sie schien in einer anderen Welt zu leben. Frau von Schoenecker hat mir versprochen, sich besonders um Billchen zu kümmern. Mehr kann man ja nicht tun.«
Anitas Gesicht wurde hart.
»Der Umgang mit den vielen Kindern wird ihr sicher guttun. Hast du ihr hübsche Sachen gekauft? Sie soll hinter den anderen Kindern nicht zurückstehen. Immerhin trägt sie unseren Namen.«
Barbara unterdrückte einen Seufzer. »Die Kinder brauchen einfache, praktische Sachen in Sophienlust. Jeans und Pullis, Sandalen und für schlechtes Wetter feste Schuhe, außerdem hohe Gummistiefel, mit denen sie durch die Pfützen laufen können. Ich habe mich erst erkundigt und dann besorgt, was nötig war. Mit weißen Kleidchen würde Billchen nur lächerlich wirken auf dem Gut.«
»Hoffentlich verwildern die Kinder dort nicht. Das Heim ist mir damals sehr empfohlen worden. Nun ja, es lässt sich immer noch etwas machen, wenn Sibylle älter wird. Sie soll auf eine gute Schule und später einen Beruf erlernen. Ein Mädchen wie sie muss auf eigenen Füßen stehen können, auch wenn es ein Vermögen besitzt.«
»Sie ist erst sieben Jahre alt, Anita«, meinte Barbara sanft. »Was ich ihr wünsche ist, dass sie ein fröhliches Kind wird. Aber ob das gelingen wird, weiß ich nicht.«
»Waren wir fröhliche Kinder?«, fragte Anita und strich sich über die Stirn. »Ich glaube nicht.«
»Du bist immer ernst gewesen. Aber Carola war lustig. Es ist gut, dass sie viel gelacht hat. Ihr Leben war ja so kurz.«
»Carola war leichtsinnig.« Anita griff nach einem leuchtendroten Kleid. Sie sah nun wieder heiter und jung aus. »Ich würde mich niemals so vergessen wie sie«, äußerte sie mit gesenkter Stimme. »Findest du, dass mir das Rot gut steht?«, fragte sie dann übergangslos.
»Sehr schön, Anita. Die Kleider gefallen mir.«
»Es könnten Carolas sein, nicht wahr?«
»Ja, das wäre möglich.«
Barbara ging in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen. Ihr war das Herz schwer, doch sie wusste nicht, warum.
*
Denise und Alexander von Schoenecker saßen in Schoeneich vor dem Kamin, in dem ein lustiges Feuer flackerte. Draußen regnete es in Strömen. Die Wärme tat wohl, sogar an diesem Sommerabend.
»Sorgen?«, fragte Alexander liebevoll und strich dabei über die Hand seiner Frau.
»Ja, wegen Sibylle Germersheim«, gestand Denise. »Heute hat Ihre Tante angerufen. Obwohl sie das Kind verleugnen will, um sich die Chancen bei ihrem Verlobten nicht zu verderben, nimmt sie Anteil an ihrer kleinen Nichte. Ich fand ihre Stimme sympathisch. Zu schade, dass sie so unsicher und verkrampft ist. Was kann es einem Mann schon ausmachen, wenn die Schwester seiner Braut ein uneheliches Kind hatte? Das ist beinahe wie ein Komplex.«
»Wahrscheinlich geht es ihr gegen die Familienehre. So etwas gibt es. Man kann nichts dagegen machen. Ich möchte behaupten, dass Sibylle unter diesen Umständen in Sophienlust besser aufgehoben ist.«
»Aber sie steht immer noch abseits und gehört nicht richtig zu den anderen Kindern. Henrik führt sie manchmal durch die Ställe. Sie freut sich über die Tiere. Aber vor dem Reiten fürchtet sie sich.«
»Hat es Andrea schon mal versucht? Im Tierheim Waldi & Co. ist schon oft genug das Eis gebrochen.«
»Nick und Pünktchen haben Sibylle zweimal mitgenommen zu Andrea. Die Kleine hat die Tiere angestaunt, Andreas Apfelkuchen mühselig heruntergeschluckt, sich artig bedankt und ist wieder gegangen. Andrea meinte, Sibylle sei wie von einer Glashülle umgeben. Man komme nicht an sie heran.«
»Nicht einmal du, Isi?«
»Ich habe mehrfach abends an ihrem Bett gesessen. Sie ist dann zutraulich und freundlich. Aber es bleibt ein Rest. Dieses Kind hat unbewusst darunter gelitten, dass es von seiner Tante als ein ungebetener Eindringling betrachtet wurde. Solche Wunden sind schwer zu heilen. Wir müssten etwas finden, was Sibylles Interesse weckt.«
»Sagtest du nicht, dass sie musikalisch ist?«
Denise sprang auf und umarmte ihren Mann stürmisch. »Du bist wunderbar, Liebster. Natürlich müssen wir es mit Musik probieren. Ich hätte selbst darauf kommen müssen. Ihre Mutter war hochmusikalisch. Der Vater soll Künstler gewesen sein, Musiker. Wolfgang Rennert muss sich mit Sibylle beschäftigen. Flötenstunden, Singen, irgendetwas. Ich hoffe, dass sie das auflockern wird.«
Alexander streichelte Denises dunkles Haar, in dem sich noch kein einziger grauer Faden zeigte. »Sie sollen alle glücklich sein, die Kinder von Sophienlust, nicht wahr, Isi?«
»Ja, Alexander, das ist unsere Aufgabe. Ich werde morgen gleich mit Wolfgang Rennert sprechen.«
Sie blieben noch vor dem Feuer beisammen, bis die Scheite in sich zusammensanken und verglühten. Dann löschte Alexander von Schoenecker die Lampen und ging mit Denise die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf. Wie gewohnt sahen sie nach, ob bei Nick und Henrik alles in Ordnung war. Beide Jungen schliefen. Henrik hatte die Decke verloren. Denise breitete sie behutsam über ihren Jüngsten. Nick wachte auf und blinzelte ins helle Licht, das vom Flur in sein Zimmer fiel.
»Schlaf gut, mein Großer«, raunte Denise ihm ins Ohr.
»Danke, Mutti. Gute Nacht, Vati.« Nick drehte sich um und war bereits wieder eingeschlafen, ehe sich die Tür schloss.
Eine Viertelstunde später erlosch das letzte Licht im Gutshaus von Schoeneich. Alexander griff im Dunkeln nach der Hand seiner Frau.
»Diese Jahre mit dir sind vergangen wie ein einziger erfüllter Tag, Isi. Manchmal frage ich mich, ob wir so viel Glück verdienen.«
Sie schmiegte sich in seine Arme. »Man verdient das Gute nie, das einem widerfährt, Alexander. Alles ist Gnade und Geschenk. Wir können nur versuchen, anderen Menschen so viel wie möglich von unserer Harmonie und unserem Reichtum an Glück abzugeben.«
Der Mann schloss ihren schlanken Körper fest und innig. »Du denkst stets an die anderen, nie an dich selbst, Isi.«
»Ich vergesse mich schon nicht, Alexander«, widersprach sie.