Billchen hob die mageren Schultern. »Ich weiß nicht einmal, was es ist. Aber es gefällt mir. Ich habe es im Radio gehört. So ähnlich klang es.«
Wieder spielte sie die zarte Melodie, summte die zweite Stimme dazu und schlug ein paar Akkorde als Begleitung dazu an.
»Sehr hübsch«, meinte Wolfgang Rennert anerkennend. »Das ist ein Menuett von Mozart. Ich will es dir einmal vorspielen.«
Er schraubte den Klavierschemel herunter und setzte sich an den Flügel. Sibylle und Henrik lauschten andächtig.
»Ist es ein Tanz?«, fragte Billchen, als er geendet hatte. »Ich finde, man könnte dazu tanzen.«
»Ja, ein Menuett ist ein altmodischer Tanz.«
»Bitte, spielen Sie es noch einmal. Ich möchte sehen, wie Sie es mit den Fingern machen.«
Wolfgang Rennert tat ihr den Gefallen.
»Bitte, zeigen Sie es mir«, bettelte Sibylle. »Ich möchte das selbst spielen können.«
Der junge Lehrer ließ sich von Billchens Eifer und Begeisterung anstecken. Der Schemel wurde wieder in die für das Kind erforderliche Höhe gedreht. Dann zeigte er Billchen die ersten Takte. Mit nachtwandlerischer Sicherheit spielte sie das Stück nach. Ihre kleinen Finger schienen ein Eigenleben zu besitzen.
Es verging etwa eine halbe Stunde, dann konnte Billchen das kleine Menuett spielen. Ihr sonst so ernstes Gesichtchen leuchtete und strahlte vor Freude. Die Füße, die die Pedale noch längst nicht erreichen konnten, wippten den Takt, und ihr Körper bewegte sich zum Rhythmus der Musik.
Henrik hatte sich auf den Boden gekauert und staunte seine Freundin an. »Du musst es Mutti vorspielen«, forderte er sie auf.
»Glaubst du, dass sie sich freuen wird?«
»Klar. Bei uns war noch nie ein Kind, das so schön gespielt hat.«
»Ich muss es doch erst lernen, Henrik.«
»Na, ich finde, du kannst schon sehr viel.«
Wolfgang Rennert, der etwas anderes zu tun hatte, verließ das Musikzimmer mit heimlichem Bedauern. Am liebsten hätte er noch stundenlang mit diesem ungewöhnlich begabten Mädchen geübt. Es lag auf der Hand, dass Sibylle ein ganz großes einmaliges Talent besaß. Das bedeutete für den Musiklehrer eine verlockende Aufgabe und eine große Verantwortung.
Wolfgang Rennert begegnete Denise von Schoenecker in der Halle. Rasch berichtete er ihr von seinem spontanen Erfolg bei Sibylle.
»Wie schön«, sagte Denise herzlich. »Mein Mann brachte mich gestern auf diesen Gedanken.«
»Hören Sie sich Billchen bitte selbst einmal an«, bat Wolfgang Rennert. »Man sollte meinen, dass sie schon Unterricht gehabt hat. Sie ist so musikalisch, dass sie sich die jeweiligen Harmonien zu einer Melodie nach dem Gehör zusammensuchen kann. Man liest manchmal von solchen Naturbegabungen, aber so recht mag man nicht daran glauben. Hier erlebe ich nun selbst, dass es das gibt.«
»Mir ist Billchens Talent nicht das wichtigste«, äußerte Denise freundlich. »Sie soll Freude an der Musik finden und dadurch glücklich werden.«
»Gehen Sie nur zu ihr. Sibylle ist lebhaft und fröhlich. Sie hat bei Tisch tüchtig gefuttert und ist dann gleich wieder an den Flügel zurückgekehrt.«
Denise eilte ins Musikzimmer, um sich mit eigenen Augen und Ohren zu überzeugen. Sie fand ihren Jüngsten mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden.
Er legte den Finger auf die Lippen und blinzelte seiner Mutter zu. Sibylle bemerkte nicht, dass jemand ins Zimmer getreten war. Ihre Hände glitten über die Tasten. Wieder erklang das Mozart-Menuett, frei und sicher vorgetragen, ohne einen einzigen Fehler.
Denise umarmte das Kind, als es geendet hatte.
»Gefällt es dir, Tante Isi? Herr Rennert gibt mir Unterricht, damit ich alles spielen kann, was ich mag. Noten lerne ich auch. Ein Glück, dass noch Ferien sind. Da habe ich wenigstens den ganzen Tag Zeit zum Üben. Man muss sehr fleißig sein, sagt Herr Rennert. Aber ich bin gar nicht fleißig. Es macht mir bloß Spass.«
»So viel auf einmal hatte Sibylle bislang noch nie gesprochen. Denise strich ihr das Haar ein wenig zurück. »Du sollst spielen, soviel du magst, Billchen.«
Das Kind schlang die Ärmchen um ihren Hals. »Jetzt bin ich gern in Sophienlust, Tante Isi. Ich möchte für immer bei euch bleiben.«
Voller Liebe dachte Denise an ihren Mann, dem sie den guten Rat verdankte. Nun gehörte auch Sibylle ganz und gar ins Haus der glücklichen Kinder.
*
Anita wartete ungeduldig am Fenster. Frederik hatte sich sonst nie verspätet. Jetzt aber wartete sie bereits eine volle Stunde auf ihn. Sie war zum Ausgehen angekleidet und trat in ihren hochhackigen Schuhen unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Endlich sah sie einen großen luxuriösen Wagen vorfahren, neben dem sich ihr eigenes Auto beinahe bescheiden ausnahm, obwohl es sich dabei immerhin um ein Mittelklassemodell aus Frankreich handelte, das nicht gerade billig war.
Anitas Herz schlug schneller, als sie Frederik erblickte. Er trug einen riesigen Blumenstrauß im Arm und winkte ihr lebhaft zu, als er sie am Fenster entdeckte.
Barbara ließ ihn ein und nahm ihm den hellen Staubmantel ab. Er drückte ihr auch das Blumenpapier in die Hand. Dann endlich standen sich die beiden Liebenden gegenüber.
»Für dich«, flüsterte Frederik und gab Anita die Blumen, prachtvolle dunkelrote Rosen. Er musste einen ganzen Laden geplündert haben, so viele waren es.
»Entschuldige, Liebste. Ich musste auf das Auto warten. Ich habe es eben erst gekauft. Es machte einige Schwierigkeiten mit der Anmeldung.«
»Ein toller Wagen.«
»Wir fahren gleich damit. Er gefällt dir bestimmt. Einen Tisch im Restaurant habe ich auch reservieren lassen. Heute feiern wir zwei ganz allein unsere Verlobung, denn ich habe endlich den richtigen Ring für dich gefunden.«
Anitas Wangen glühten. Sie legte die Rosen beiseite und nahm ein kleines Kästchen entgegen, das mit Leder überzogen war. Es wirkte an den Kanten und Ecken schon ein wenig abgewetzt. Vorsichtig drückte Anita auf den Verschlussknopf. Der Deckel sprang hoch. Auf goldgelber Samtunterlage steckte ein in Brillanten gefasster Rubinsolitär von einmaliger Schönheit. Dieser Verlobungsring war einer Fürstin würdig und hatte gewiss ein Vermögen gekostet.
»Frederik«, flüsterte Anita.
»Gefällt er dir?«, fragte er und küsste sie auf den Mund. »Ich wollte etwas Besonderes haben. Solche Stücke werden heute gar nicht mehr angefertigt.«
»Wem mag er wohl früher gehört haben?«, überlegte Anita halblaut und schob den Platinreif über ihren Finger. »Er passt mir.«
»Wertvolle Juwelen wechseln oft den Besitzer«, erklärte Frederik leichthin. »Du kannst dir zu dem Ring selbst eine romantische Story ausdenken. Du jedenfalls sollst ihn behalten und niemals weitergeben.«
»Das ist der schönste Ring, den ich je gesehen habe«, äußerte Anita andächtig und betrachtete ihre Hand. »Du bist ein Künstler und Zauberer. Erst gestern sind wir angekommen. Heute hast du bereits ein Auto gekauft und dieses viel zu wertvolle Geschenk für mich.«
»Das ist mit Auto ist nur eine Frage des Geldes. Bei dem Rubin hatte ich Glück. Ich fand fast auf Anhieb, was ich suchte.«
»Ich wüsste gar nicht, wo man so etwas kaufen kann.«
»Nun, das ist mein Geschäft. Davon verstehe ich etwas. Der Ring sieht gut aus an deiner Hand. Du musst achtgeben, dass du ihn nicht verlierst.«
»Das wäre schrecklich. Ich passe bestimmt immer gut auf. Wollen wir etwas trinken, ehe wir aufbrechen?«
»Es ist schon spät geworden. Ich habe den ganzen Tag zu tun gehabt und bin hungrig. Fahren wir!«
Anita