fühlt. Doch nun zu Ihnen.« Denise nahm einen blauen Luftpostbogen zur Hand, der unverkennbar Anitas Schriftzüge trug. »Frau Germersheim schrieb mir aus Übersee, dass sie ihre Nichte aus persönlichen Gründen sehr schnell in einem Heim unterbringen müsse. Auch Sie versicherten mir am Telefon, es handle sich um einen dringenden Fall. Bin ich indiskret, wenn ich dazu ein paar Einzelheiten erfahren möchte? Ich verschließe mich grundsätzlich nicht, wenn ein Kind einen sicheren Hafen braucht. Deshalb habe ich auch sofort zugesagt. Ist Sibylle Waise?«
Barbara Küster betrachtete ein paar Sekunden lang ihre etwas runzelig gewordenen Hände. »Sibylle ist unehelich geboren, Frau von Schoenecker«, erklärte sie dann vertrauensvoll. Sie war ganz sicher, dass sie Denise die Wahrheit sagen durfte. »Ihre Mutter starb vor sechs Jahren. Billchen kann sich nicht an sie erinnern. Sie war erst ein Jahr alt. Schon damals wollte ihre Tante Anita sie in ein Heim geben. Anita schämte sich ihrer Schwester und vor allem des Kindes ohne Vater. Am liebsten hätte sie das alles aus ihrem Leben ausgelöscht. Ich habe Anita und Carola Germersheim aufgezogen, denn ihre Eltern starben, als die beiden Mädchen erst zehn und zwölf Jahre alt waren. Anita ist die Ältere. Sie war immer fleißig und machte mir niemals Schwierigkeiten. Carola dagegen wusste vor Lebensfreude und Übermut nicht, wo die Grenzen waren. Sie tollte herum wie ein Junge, zerriss sich die Kleider beim Klettern und nahm die Schule nicht sehr wichtig. Dafür gehörte ihre ganze Hingabe der Musik. Sie spielte sehr gut Violine und Klavier. Manchmal übte sie drei oder vier Stunden lang, obwohl sie noch ein Kind war. Der Vormund der Mädchen, ein alter Freund der Familie, hatte altmodische Ansichten und wollte beide nach Absolvierung der Schule in ein vornehmes Pensionat in der Schweiz schicken. Anita fügte sich, aber Carola setzte ihren Willen durch und begann am Konservatorium Musik zu studieren. Dann passiert die Sache mit dem Kind. Carola hat Billchens Vater sehr geliebt. Aber der war eine Künstlernatur und nahm die Liebe nicht ernst. Glücklicherweise hat der Herr Vormund das nicht erleben müssen. Die Mädchen waren auch inzwischen volljährig geworden. Es gab viel Streit zwischen den Schwestern wegen des Kindes, denn Anita fand Carolas Fehltritt, sie sie es nannte, unverzeihlich. Trotzdem duldete sie das Baby im Haus und spielte gelegentlich mit ihm, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann erkrankte die arme Carola. Sie nahm es zunächst nicht ernst, suchte keinen Arzt auf. Schließlich war es zu spät. Auch in der Klinik konnten sie ihr nicht mehr helfen. Carola setzte Anita zu Sibyllchens Vormund ein und bat mich, so gut zu ihrem Kind zu sein, wie ich es zu ihr gewesen war.«
Barbara hielt inne. Sie holte ihr schneeweißes Taschentuch hervor und wischte sich ein paar Tränen von der Wange. Denise von Schoenecker wartete geduldig und störte sie mit keiner Frage. Wieder einmal entrollte sich vor ihr ein tragisches Kinderschicksal.
»Ich habe einen harten Stand gehabt nach dem Begräbnis, Frau von Schoenecker«, hob Barbara wieder an. »Anita wollte das Kind weggeben und nur von fern über seine Erziehung wachen. Sie wehrte sich dagegen, dass im Hause Germersheim ein vaterloses Kind aufwachsen sollte. Aber ich meine, sie hat Billchen doch ein wenig liebgehabt, denn ich konnte sie schließlich davon überzeugen, dass das Kind ein Recht darauf hätte, im Hause der Mutter zu leben. So blieb Sibylle bei uns, aber Anita zog sich ganz zurück und hatte keinen Umgang mehr mit Freunden und Bekannten. Sie besuchte keine gesellschaftlichen Veranstaltungen und bildete sich ein, dass sie sich wegen des Kindes schämen müsse. Damals hatte sie die Adresse von Sophienlust in Erfahrung gebracht. Jetzt erinnerte sie sich daran. Denn leider steht ihr Sibylle heute im Weg. Wenigstens ist das ihre felsenfeste Überzeugung.«
Nun sagte Denise doch etwas: »Ich nehme an, dass die Liebe im Spiel ist. Billchens Tante möchte frei sein für ihr eigenes Glück.«
Die Haushälterin neigte den grauen Kopf. »Ja, Anita unternahm unerwartet eine Reise um die Welt. Sie erkannte wohl, dass sie viel nachzuholen hatte. Jeder Mensch will einmal unbeschwert jung und glücklich sein. Nicht wahr, das verstehen Sie?«
»Aber ja, warum nicht?«
»Anita hat unterwegs den Mann getroffen, den sie heiraten möchte. Sie ist jedoch fest entschlossen, ihm Sibylles Vorhandensein zu verheimlichen. Deshalb musste das Kind Hals über Kopf aus dem Haus. Mir blutet das Herz, aber ich kann Anita trotzdem nicht böse sein, denn sie hat bittere, einsame Jahre hinter sich.«
Denise lächelte. »Ich bin ihr auch nicht böse, liebe Frau Küster. Es ist jammerschade, dass ihr niemand klarmachen konnte, was für ein Glück bringendes Geschenk ein Kind ist – was für eine wunderbare Aufgabe und Herausforderung. Wir werden Sibylle liebhaben. Das verspreche ich Ihnen. Wenn Sie wollen, können Sie ein paar Tage als unser Gast bei uns bleiben. Das wird Sibylle das Einleben etwas erleichtern.«
Barbara errötete und sah auf einmal viel jünger aus. »Wenn ich hierbleiben dürfte?«, stammelte sie unsicher. »Ich habe ein paar Sachen mitgenommen und wollte mir in der Nähe ein Zimmer suchen für eine Woche. Eigentlich, weil ich misstrauisch war. Jetzt sehe ich, dass Billchen es hier gut haben wird. Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich so gedacht habe.«
»Sie konnten nicht wissen, wie es hier zugeht. Jetzt werden wir in den Speisesaal gehen, denn unsere gute Köchin Magda hat zu Ehren von Sibyllchen Schokoladentorte gebacken. Das ist ihre Spezialität. Ich denke, wir sollten auch ein Stückchen probieren.«
»Es ist hier alles ganz anders, als ich angenommen hatte, Frau von Schoenecker«, gestand Barbara erleichtert. »Hier weiß ich Carolas Töchterchen in guter Obhut.«
Barbara fand erst jetzt Muße, sich in dem stilvoll eingerichteten Zimmer umzuschauen. Ihr Blick fiel auf das Porträt einer alten Dame mit gütigem Gesicht und schneeweißem Haar.
»Das ist Sophie von Wellentin, Dominiks Urgroßmutter, die ihm Sophienlust hinterließ«, erklärte Denise. »Ich habe nur einmal in meinem Leben persönlich mit ihr gesprochen. Dennoch verbindet mich mit ihr durch dieses Bild und das Biedermeierzimmer, in dem sie sich am liebsten aufhielt, eine innige Zuneigung, die über den Tod hinausgeht. Manchmal halte ich Zwiesprache mit ihr. Oft genug ist mir unter diesem Gemälde die rechte Entscheidung eingefallen, wenn ich Zweifel hegte, was ich tun sollte.«
»Es sind wahrhaftig glückliche Kinder, die hier sein dürfen«, flüsterte Barbara dankbar.
Ein paar Minuten später war die nachdenkliche Stimmung verflogen. Im Speisesaal schwirrten die hellen Kinderstimmen durcheinander, denn es gab einen beinahe erbitterten Wettstreit um die Ehre, neben Tante Isi sitzen zu dürfen.
Denise umarmte Sibylle, die scheu abseits stand. »Es ist fein, dass du zu uns gekommen bist, Billchen. Möchtest du mich Tante Isi nennen, wie es die anderen Kinder tun?«
»Aber du bist nicht meine richtige Tante, nicht wahr?«
»Nein, das nicht.«
»Richtige Tanten mag ich nicht so gern«, flüsterte Sibylle. »Ich habe eine. Die ärgert sich immer nur über mich. Warum, das verstehe ich nicht genau. Es hat irgendetwas mit meiner Mutter und meinem Vater zu tun.«
Denise streichelte impulsiv über den Kopf des Kindes. »Wir reden später mal in Ruhe darüber, Billchen. Jetzt gibt es erst einmal Torte. Wo möchtest du sitzen?«
Sibylle schaute mit ihren großen Augen zu Denise auf. »Zwischen dir und Barb«, antwortete sie. »Geht das? Alle Kinder wollen bei dir sein, Tante Isi.«
»Du bist heute die Hauptperson. Also kannst du bestimmen, neben wem du deine Schokoladentorte essen willst. Kommt, Kinder, wir wollen anfangen, sonst wird der Kakao kalt.«
Pünktchen, die mit ihrem richtigen Namen Angelina Dommin hieß und schon sehr lange in Sophienlust war, füllte gemeinsam mit Irmela die vielen Tassen. Heidi, das vierjährige Nesthäkchen des Heims, erschmeichelte sich indessen den Platz an Denises noch freier Seite. Frau Rennert schnitt die großen Torten an und achtete darauf, dass alle Stücke gleich groß wurden.
»Willkommen in Sophienlust«, schmetterte Henrik und hob dazu seine Tasse, als wäre sie ein Sektglas.
»Willkommen«, stimmten die anderen Kinder ein.
Barbara lächelte und fühlte sich schon ganz daheim in der munteren Runde. Billchen dagegen behielt ihr ernstes Gesicht und wagte es nicht einmal, den Blick zu heben. Sie beschäftigte sich