sie endlich. Vom Tubus war ihr Hals rau, und dementsprechend heiser war ihre Stimme. Ihr hilfloser Blick wanderte von einem zum anderen und blieb schließlich an Daniel Norden hängen. »Was ist mit mir passiert?«
Diese Frage hatte der erfahrene Arzt am meisten gefürchtet. Die Wahrheit konnte entmutigend sein.
»Sie hatten einen Herzstillstand«, erwiderte er zögernd. »Wir mussten Sie reanimieren. Aber keine Sorge. Inzwischen ist Ihr Zustand wieder stabil, und in ein paar Wochen wird alles wieder gut sein«, brachte er seine tiefste Hoffnung zum Ausdruck, die Lenni jedoch mit zwei schlichten Sätzen schlagartig zunichte machte.
»Ich bin doch eh zu nichts mehr nütze. Warum haben Sie mich nicht einfach sterben lassen?«
*
An diesem Abend traf sich die Familie nicht wie sonst im Hause Norden, sondern im Café ›Schöne Aussichten‹. Zum einen wollten Daniel und Fee ihre Schwiegertochter in spe unterstützen, die trotz ihrer neuen Helferin erst weit nach sieben Uhr mit den Aufräumarbeiten in Bäckerei und Backstube fertig war.
»Außerdem finde ich, dass dieser Name ein gutes Omen ist«, erklärte Fee und dankte Dési, die ihr ein Glas Wein servierte. »Wenn wir im Augenblick etwas brauchen können, dann sind das schöne Aussichten.«
Statt eines Abendbrots hatte Tatjana Teller mit dem restlichen Gebäck aufgestellt, das vom Tag übrig geblieben war. Bevor über Lennis Gesundheitszustand und die zu ergreifenden Maßnahmen diskutiert wurde, griffen alle hungrig nach Pizzataschen und mexikanischen Schnitten, nach Quiche Lorraine und Olivenbrot. Dési und Anneka spielten die Mundschenke und versorgten ihre Familie mit Getränken.
»Da wächst ja fähiges Personal heran«, lobte Danny seine beiden jüngeren Schwestern und prostete seinem Vater zu, der sich, ebenso wie sein Sohn, für ein alkoholfreies Bier entschieden hatte. »Tatjana kann es sicher kaum erwarten, bis ihr beiden mit der Schule fertig seid. Dann könnt ihr gemeinsam ein Familienunternehmen gründen und weltweit Filialen eröffnen.«
»Ehrlich gesagt habe ich andere Pläne, als in die Gastronomie einzusteigen«, gestand Anneka und schickte der jungen Bäckerin, die ihr inzwischen wie eine ältere Schwester ans Herz gewachsen war, einen entschuldigenden Blick.
»Aber eine Filiale irgendwo am Meer wäre doch gar nicht so schlecht«, erwiderte Dési, die sich noch lebhaft an ihre Zeit im Orient erinnerte. Seither hatte sie die Abenteuerlust gepackt, und sie träumte von Reisen in die große, weite Welt.
Zu diesen Plänen lachte Tatjana nur.
»Bevor ich an Expansion denke, muss ich diesen Laden erst mal in den Griff bekommen«, gestand sie und trank einen Schluck Rotwein.
Erst nach und nach fiel die Anspannung des Tages von ihr ab, und ihre Gesichtszüge verloren die Strenge.
»Wer war denn die junge Frau, die vorhin gegangen ist, als wir gekommen sind?«, erkundigte sich Fee interessiert.
Tatjana verdrehte die Augen gen Himmel.
»Das war meine neue Bäckerin, Marla Brandt«, gestand sie zähneknirschend. »Nachdem sie Danny um ein Haar mit dem Fahrrad über den Haufen gefahren hat und ihm danach auch noch frech gekommen ist, wollte ich sie eigentlich nicht einstellen. Aber heute hatte ich endgültig keine Wahl mehr und musste in den sauren Apfel beißen.«
»Auch keine schlechte Art, mit dem Kundenansturm fertig zu werden«, scherzte Danny belustigt. »Ein paar freche Sprüche, und der Laden ist mit einem Schlag leer. Mal abgesehen davon, dass sie mit diesen blauen Haaren und dem Nasenpiercing furchterregend aussieht.«
»Das dachte ich am Anfang auch«, musste Tatjana unwillig einräumen. »Aber ich muss gestehen, dass sie mich positiv überrascht hat. Sie war freundlich, zuvorkommend und besitzt offenbar eine schnelle Auffassungsgabe.«
»Dann warte einfach mal ab, was passiert«, machte Fee den einzig vernünftigen Vorschlag. »Was anderes bleibt dir im Moment ohnehin nicht übrig, wenn du nicht vor die Hunde gehen willst.« Besorgt betrachtete sie Tatjanas blasses Gesicht, das in letzter Zeit noch schmäler als ohnehin schon geworden war.
»Genau wie Lenni!« Es war Felix, der die Sprache auf das Thema brachte, das ihm am meisten unter den Nägeln brannte. Sofort wurden die Gesichter um ihn herum ernst. »Was machen wir denn jetzt mit ihr?« Er warf einen fragenden Blick in die Runde.
»Sie will immer noch in ein Pflegeheim umziehen«, erklärte Daniel Norden bekümmert.
»Lenni kommt in kein Heim!«, widersprach Anneka energisch. »Wenn sie Pflege braucht, dann kümmern wir uns zu Hause um sie. Schließlich gehört sie zur Familie.«
»So denken wir alle.« Fee ließ den dunklen Rotwein im Glas kreisen. »Die einzige, die in ein Heim will, ist Lenni selbst. Sie ist furchtbar entmutigt und traurig.«
»Wenn ich nur wüsste, wie wir sie davon überzeugen können, dass sie nicht unnütz ist, auch wenn sie nicht mehr arbeiten kann«, seufzte Daniel ratlos.
»Du weißt doch, wie stur sie ist. Wenn sie sich das mit dem Heim in den Kopf gesetzt hat, wird sie sich nicht mehr so leicht davon abbringen lassen.«
»Das kommt ganz darauf an, ob wir eine Idee haben, womit sie sich beschäftigen könnte«, gab Anneka zu bedenken. Sie sah ihren Vater prüfend an. »Was glaubst du? Wird sie je wieder richtig laufen können?«
Nachdenklich wiegte Daniel den Kopf.
»Mit einem neuen Kniegelenk ist das sehr wahrscheinlich. Das weitaus größere Problem sehe ich allerdings darin, dass sie gar nicht mehr gesund werden will. Dass ihr die Motivation fehlt, die wichtig ist, um wieder auf die Beine zu kommen.«
Schweigend lauschte Felix Norden den Überlegungen seiner Familie. Dabei dachte auch er unablässig darüber nach, wie er seiner liebsten Lenni neuen Auftrieb geben könnte.
»Wenn sie doch nur nicht immer alles selbst machen wollte«, stieß er in Erinnerung an den Unfall verzweifelt hervor, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. »O Mann, warum bin ich nicht früher drauf gekommen?«, fragte er sich selbst und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Das Problem ist gleichzeitig die Lösung! Eigentlich ist es ganz einfach!« Während er sprach, war er so hastig aufgesprungen, dass sein Stuhl polternd umfiel.
Alle Anwesenden zuckten erschrocken zusammen.
»Wie bitte?«, fragte Fee, als ihr Sohn schon auf dem Weg zur Tür war.
Doch Felix drehte sich nicht mehr um. Plötzlich hatte er es eilig.
»Keine Zeit mehr!«, rief er so gut gelaunt wie lange nicht. »Ich muss ausprobieren, ob meine Vermutung richtig ist.«
Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Einen Moment lang herrschte verdutztes Schweigen an den Tischen, das sich erst löste, als Danny sein Glas hob, um mit seiner Familie anzustoßen.
»Auf Felix! Möge sein Name ein gutes Omen und das Glück ihm hold sein!«, gab er einen Toast aus auf seinen Bruder, der schon immer für eine Überraschung gut gewesen war.
»Auf Felix!«, schlossen sich Daniel und Fee, Anneka und Dési, Janni und nicht zuletzt Tatjana diesem Vertrauen an.
Die Gläser klangen aneinander, und hoffnungsvoll leuchteten die Gesichter im Schein der Kerzen, die Tatjana auf den Tischen in ihren Café ›Schöne Aussichten‹ angezündet hatte.
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