in ihre Wohnung.«
»Wie bitte?« Danny traute seinen Ohren kaum. »Aber was sollen wir denn dann machen? Wir können sie doch nicht in ein Pflegeheim stecken.«
Dieser Gedanke war so ungeheuerlich, dass alle durcheinander redeten, bis Daniel Norden der lautstarken Diskussion ein mindestens ebenso lautstarkes Ende bereitete. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Löffel in den leeren Suppentellern tanzten und klapperten.
Schlagartig verstummten die Stimmen, und alle sahen den Arzt an.
»Niemand wird hier in ein Pflegeheim abgeschoben, damit das klar ist! Wir werden eine Lösung suchen und finden!«, erklärte Dr. Norden in die besorgten Gesichter, ehe er sich an seine Tochter Anneka wandte. »Und jetzt wüsste ich gern, was es heute zum Nachtisch gibt. Die Suppe war so köstlich, dass ich wirklich gespannt bin.«
»Für den Nachtisch bin ich heute verantwortlich«, erklärte Tatjana und stand auf. »Meine Profiteroles sind eine Sensation. Das behaupten wenigstens meine Gäste.«
»Deine Gäste sind eben kluge Menschen«, bestätigte Danny lächelnd. »Sie wissen, dass Schokolade chemisch gesehen das perfekteste Nahrungsmittel der Welt ist und man deshalb auf ausreichende Zufuhr derselben achten sollte«, verpackte er seinen Stolz auf Tatjana in einen Scherz.
Der lobende Zeitungsbericht über das Café ›Schöne Aussichten‹ und der darauf folgende Ansturm waren die schönste Bestätigung für ihn, dass sich jede ihrer Mühen gelohnt hatte und dass Tatjana auf dem richtigen Weg war. Er bewunderte sie zutiefst für ihre Energie und Entschlossenheit, diesen schweren Weg trotz ihrer Sehbehinderung gegangen zu sein.
Ehe sich die Bäckerin auf den Weg in die Küche machte, warf sie ihrem Freund eine Kusshand zu.
»Es mag aber auch daran liegen, dass es sinnlos ist, sich vor Schokolade zu verstecken. Sie findet einen immer! Auch meine Gäste«, erklärte sie augenzwinkernd, und alle lachten.
Wie alle anderen Familienmitglieder auch war sie Daniel Norden mehr als dankbar, das Thema gewechselt zu haben. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass das Leben selten planbar war und manche Überraschung bereithielt. Das hatte Tatjana selbst mehrfach am eigenen Leib erfahren und sich daher einen schier unerschütterlichen Optimismus angeeignet, der auch auf die anderen Familienmitglieder abfärbte. Schon bald saßen Anneka und Felix, Dési und Janni, Daniel, Fee und Danny am Tisch und ließen sich die köstlichen Windbeutel mit Sahnefüllung und Schokosauce schmecken, während sie herzlich über Tatjanas Anekdoten aus dem Café lachten und ihre Sorgen um Lenni wenigstens für kurze Zeit vergessen konnten.
*
Auch wenn die Sorge um Lenni groß war, konnte Tatjana ihre eigenen Probleme darüber nicht völlig vergessen. Der Ansturm auf das Café war erfreulich. Aber die Schwierigkeiten, vor die der überraschende Erfolg die Bäckerin und ihre Kollegin Marianne stellte, dämpften die Freude erheblich.
»Wir müssen so schnell wie möglich jemanden finden, der backen und am besten auch noch bedienen kann«, bemerkte Tatjana, als Marianne am nächsten MorgenzurArbeit kam.
Sie war blass, und nicht nur die tiefen Höhlen, in denen ihre Augen lagen, zeugten von der schlaflosen Nacht. Ihr dunkles, lockiges Haar war noch wilder als sonst und hatte sich offenbar nur unwillig mit einem Haarband bändigen lassen. Doch auf all diese eindeutigen Zeichen konnte Tatjana an diesem Morgen keine Rücksicht nehmen. Nachdenklich sah sie der Kaffeemaschine dabei zu, wie sie dampfend und schnaubend zwei Tassen mit der dunklen, aromatischen Flüssigkeit füllte. »Nicht auszudenken, was werden soll, wenn die Besucherzahlen so bleiben und wir keine Verstärkung finden. Danny macht jetzt schon gute Miene zum bösen Spiel. Mal abgesehen davon, dass er eigentlich seine Doktorarbeit schreiben sollte statt mir in der Bäckerei zu helfen.«
Marianne hatte inzwischen ihre Jacke mit einer Schürze getauscht und unterdrückte ein Gähnen, als ihre Chefin ihr den Kaffee reichte. Noch hatte keine Kundschaft den Weg ins frisch renovierte Café gefunden und die beiden Frauen nahmen an einem der kleinen Tische Platz.
»Was war denn mit dem blauhaarigen Mädchen, das sich gestern vorgestellt hat?«, erkundigte sich Marianne und nippte vorsichtig an ihrer Tasse.
Wenn Tatjana nur an die Szene vor der Bäckerei dachte, verdrehte sie die Augen.
»Du hättest sie mal erleben sollen, wie sie mit Danny umgesprungen ist.« Kopfschüttelnd biss sie in eines der beiden frischen Croissants, die auf einem kleinen Teller auf dem Tisch standen. Ein paar Brösel fielen auf die dunkle Holzplatte und Tatjana stippte sie mit der befeuchteten Fingerspitze auf. »Frech wie Oskar.«
»Das ist doch manchmal gar nicht so schlecht«, gab Marianne zu bedenken und musste unwillkürlich an Carinas freches Auftreten vom Vortag denken. Im Nachhinein wünschte sie sich, mehr Selbstbewusstsein besessen und der Lernschwester mit einem schlagfertigen Kommentar die Stirn geboten zu haben. »Den Broten und Brötchen, die sie backt, macht das sicher wenig aus. Die werden sich schon nicht beschweren…«
Über diese Vorstellung musste Tatjana nun doch lachen.
»Stell dir vor, was in der Backstube los wäre, wenn das Zeug auch noch reden könnte… Nein, lass mich, das ist mir zu heiß… Igitt, der Zuckerguss ist aber heute klebrig…«, lieh sie ihrem Croissant ihre verstellte Stimme.
Marianne lachte.
»Oder stell dir so eine Torte vor…nein, ich kann Marzipan nicht ausstehen. Mach mir Zuckerfiguren, sonst bin ich beleidigt«, spielte sie das Spiel trotz ihres Liebeskummers mit, und die beiden Frauen lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen.
Dann wurde es endlich Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
»Was für eine Ausbildung hat das blauhaarige Mädchen denn?«, fragte Marianne auf dem Weg in die Backstube.
Unwillig verdrehte Tatjana die Augen. Sie wollte nicht über Marla sprechen.
»Warum warst du eigentlich gestern bei Mario nicht auch so hartnäckig? Den hast du lieber weggeschickt, statt dir seine Entschuldigung anzuhören«, wich sie ungeduldig aus. »Dabei sind seine Manieren sicher bestechender als die von Marla.«
Auf dieses Argument hatte Marianne tatsächlich keine Antwort. Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass sie es schon jetzt bereute, den Kinderarzt so schnöde abgefertigt zu haben, ohne ihn wenigstens anzuhören. Seitdem schwieg Mario beharrlich, und die Konditorin musste feststellen, dass sie sich mit dieser Maßnahme selbst am allermeisten bestrafte.
Trotzdem blieb sie standhaft.
»Er muss schon einen verdammt guten Grund haben, warum er sich mit dieser jungen Schwester getroffen hat. Und dann auch noch hier im Café. Wenn Mario schon weiß, dass ich Probleme mit unserem Altersunterschied habe und damit, dass viel jüngere und hübschere Frauen hinter ihm her sind, dann könnte er doch solche Sachen lassen. Was wollte er damit bezwecken? Mich demütigen?«, brach all ihr Kummer aus ihr heraus.
»Siehst du. Und genau deshalb hättest du mit ihm reden sollen.« Um Tatjanas Lippen spielte ein verschmitztes Lächeln. Sie bückte sich nach dem Sack, der neben ihr auf dem Boden stand, und häufte einen kleinen Berg Mehl vor sich auf der Arbeitsplatte auf. Es wurde Zeit, die dritte Lage Brötchen für den Tag vorzubereiten.
Inzwischen hatte Marianne die erste der vielen Torten aus der Kühlung geholt, die sie kunstfertig nach Kundenwünschen verzieren würde.
»Ach, egal! Soll er ruhig mal ein bisschen zappeln«, schimpfte sie und klatschte ärgerlich ein Stück Marzipan auf ihren Arbeitstisch. »Und jetzt sollten wir das Thema wechseln, wenn ich nicht statt Rosenranken einen Mann am Marterpfahl für die Torte basteln soll.«
Dieses Risiko wollte Tatjana lieber nicht eingehen. Während der Brötchenteig in ihren Fingern geschmeidig und weich wurde, dachte sie gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin darüber nach, wo sie so schnell wie möglich eine fähige Hilfe finden konnten. Sie sollte weder blaue Haare noch ein Haustier haben und auch nicht dem Irrtum verfallen sein, dass eine Brotbackmaschine einen Bäcker ausmachte. Doch je länger sie sich unterhielten, umso klarer wurde den beiden, dass