Bernd Hesse

Durch die Hölle


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Vater verstarb und niemand hielt es für nötig, sie und den viel jüngeren Bruder überhaupt noch als Erben von Land, dessen Gemarkungen kaum einer mehr kannte, in die Grundbücher eintragen zu lassen. Der Grundstücksverkehr selbst war in diesem Teil des Landes nahezu zum Erliegen gekommen. Der alte Staroski blieb auch nach seinem Tode im Grundbuch stehen.

      Gudruns und Ottmars Ehe blieb kinderlos, und so schien es Gudrun auch nur recht, in den Achtzigerjahren zusammen mit ihrem Mann ein Testament aufzusetzen, wonach Ottmars Tochter Paulina Persokeit nach dem Letztverstorbenen alles alleine erbe. Von diesem Testament erzählte Gudrun ihrem Bruder, dem sowieso sein Teil vom Land des Vaters zustand, nichts, da sie mit ihrem Erbteil ja machen könne, was sie wollte, und für Paulina hatte es zunächst wenig Bedeutung: Das Land war von der LPG vereinnahmt worden und der wirtschaftliche Wert des zwar großen, aber ebenso alten Bauernhauses tendierte gegen null. In den Orten des Oderbruchs, in denen ebenso große Häuser standen, wurden diese mittlerweile zur Betreibung von Kindergärten, Dorfläden, Klubhäusern und Ähnlichem genutzt. So konnten wenigstens einige Mittel für die Instandsetzung dieser Gebäude gewonnen werden.

      Das alte Staroski-Haus, das von den Einheimischen auch heute noch so genannt wird, obwohl die ­Persokeits einige Jahrzehnte lang darin gewohnt hatten, verfiel nach und nach. Nur die allernotwendigsten Reparaturen wurden durchgeführt. Für mehr waren weder Geld noch Mittel da, geschweige denn Fleiß des neuen Hausherrn.

      Das Haus hätte insbesondere wegen der Feuchtigkeits­schäden grundlegend saniert werden müssen. Die Instandsetzung war zu DDR-Zeiten kein leichtes Unterfangen. Um die notwendigen Arbeiten realisieren zu können, brauchte man Verwandte und Freunde. Von den Staroskis wollte Ottmar Persokeit keine Hilfe annehmen. Er schaffte es sowieso sein Lebtag, sich mit allen Menschen zu überwerfen, ausgenommen mit seiner Tochter Paulina, die jedoch ihrerseits wenig von ihrem Vater und noch weniger von der Stiefmutter Gudrun wissen wollte. So gab es für das immer weiter verfallende Haus keine Hilfe; es schien seinem Ende entgegenzugehen.

      Paulina hasste das Dorf, das nach Moder riechende Haus, die im Dorfe lebenden Menschen und ihre Lebensweise. Sie strebte nach Höherem, worunter sie Ansehen, eine nicht in körperlicher Arbeit bestehende Beschäftigung, Geld und ein schönes, neues Haus verstand. Weshalb Menschen darauf stolz waren, etwas mit ihrer Hände Arbeit zu schaffen, das blieb ihr ewig ein Rätsel. Wenn die Verwandtschaft ihrer Stiefmutter vom Feld kam, schmutzig, geschafft und müde, dann wusste sie genau, dass das nicht die Arbeit war, die sie machen wollte. Und es war noch mehr: ­Paulina schaute auf diese Menschen herab. Die konnten getrost hierbleiben; sie jedoch musste weg.

      Gudruns Bruder wurde sehr viel später Vater zweier Söhne, Matthias und Uwe Staroski. Sie waren mehr als eine Generation jünger als ihre Cousine Paulina, zu der sie nur selten Kontakt hatten. Matthias, der ein wenig ältere Bruder, schien eher besonnen, legte schon zeitig etwas Ehrgeiz an den Tag und musste seinen jüngeren Bruder Uwe aus vielerlei Situationen retten, in die der immer wieder hineinschlitterte. Hatte Uwe im Dorfe wieder jemanden provoziert und es stand eine Prügelei ins Haus, stand Matthias seinem jüngeren Bruder zur Seite.

      Paulina hatte zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Cousins Matthias und Uwe das Dorf längst verlassen und war gen Süden nach Frankfurt an der Oder gezogen, wo sie einen Arzt heiratete, mit dem sie einige Jahre später das Land in Richtung Westen verließ und wo Tochter Paula zur Welt kam.

      Als Ottmar Persokeit verstarb, reiste Paulina Ende der Achtzigerjahre ohne ihren Mann zur Beerdigung ihres Vaters in den Osten. Sie fuhr ihren Mercedes nicht ohne Stolz auf das, was sie aus ihrer Sicht erreicht hatte, durch das Dorf, welches sich in den Jahren nur wenig verändert hatte. Sie sah sich in ihrem Entschluss, das alles hinter sich zu lassen, nur bestätigt. Mit diesen Menschen hier hatte sie aber auch gar nichts mehr gemein. Die ließen sich vom Schicksal nur treiben, ohne ihr Leben und ihr wirtschaftliches Schicksal wirklich in die Hände zu nehmen. Ihre Verachtung für diese Menschen konnte sie nicht immer verbergen; besondere Mühe gab sie sich damit auch nicht.

      Ihre Cousins Matthias und Uwe hatten die Schule bereits abgeschlossen, Matthias lernte den Beruf des Klempners und Installateurs, was ihm aufgrund seines handwerk­lichen ­Geschicks und technischen Verständnisses auch lag, und Uwe den des Agrotechnikers, mit dem er sich nicht so recht anfreunden konnte. Die beiden Jungen schlichen, nicht unbemerkt von ihrer alten Cousine, häufig um deren Mer­cedes C-Klasse-Modell herum, was ihrer Eitelkeit schmei­chelte.

      Zu Paulinas Verwunderung traf zur Beisetzung das halbe Dorf ein. Nachdem Ottmar unter die Erde gebracht worden war, begriff sie, dass alle Besucher nur ihrer Stief­mutter Gudrun Trost und ein paar nette Worte spenden wollten. Über Paulinas Vater Ottmar verlor selbst bei dieser Gelegenheit kaum einer ein gutes Wort. Nur der Trauer­redner sprach von einem liebevollen Ehemann und Vater, von einem Bauern, der geachtet worden sei und seinen Platz in der Dorfgemeinschaft gefunden hatte. Einige der Trauergäste mussten sich bei dieser Rede ein Lächeln verkneifen.

      Die engere und weitere Verwandtschaft traf sich nach der Beisetzung in dem unansehnlichen Bauernhaus.

      Paulina konnte mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten: »Das Klingelschild habt ihr zwar sehr schön beschriftet, aber ansonsten sieht es traurig aus!«

      Während der Feier hörte Paulina, wie Gudruns Bruder seiner Schwester anbot, mit seinen beiden Jungen am Haus zu helfen. Matthias könne die Wasserinstallation erneuern.

      »Jetzt ist das doch möglich, oder?«, fragte er seine Schwester.

      »Das wäre schön. Gerade oben am Giebel, da müsste was gemacht werden. Da kommt der Regen durch. Das Holz darunter ist schon morsch.«

      »Das habe ich gesehen. Das bekommen wir schon hin.«

      »Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Ja, und die Wasser- und Abwasserleitungen müssten auch erneuert werden. Ein paar Jahre möchte ich hier schon noch leben«, sagte Gudrun und blickte dankbar zu ihrem Bruder.

      »Ehrensache! Es ist doch unser Vaterhaus.«

      Dass dereinst Paulina dieses Haus erben würde, davon ahnten weder er noch seine Jungen etwas. Paulina verfolgte interessiert das Gespräch zwischen den Geschwistern und war nicht abgeneigt, wenn diese etwas zur Wertsteigerung ihres künftigen Erbes beitrügen.

      Am Abend zeigte Paulina Fotos von spanischen Stränden und ihrem Ferienhaus an der dortigen Küste. Bewundernd schauten die Gäste die Bilder an und reichten sie weiter.

      »Warum ist denn dein Mann auf den Bildern nicht zu sehen?«, erkundigte sich Gudrun. »Der hat wohl immer fotografiert?«

      Paulina schüttelte den Kopf. »Die Bilder hat meist Paula gemacht. Mein Mann hat so viel Arbeit in der Klinik und dann hier noch einen Kongress und da noch einen Vortrag, da konnte er nicht mit nach Spanien reisen.«

      »Ihr macht getrennt Urlaub?«, stellte Gudruns Bruder mehr fest, als dass er fragte.

      »Das ist bei uns völlig üblich«, erklärte Paulina.

      »Bei uns auch«, erwiderte Gudruns Bruder grinsend, »wenn man den anderen satt hat.«

      Es folgte ein Streit über Urlaub, den man im Westen, und solchen, den man im Osten machte, über zugeteilte Urlaubs­plätze in Urlauberheimen der DDR und Reisefreiheit und individuelle Urlaubsgestaltung im Westen.

      Das konnte aber nicht verhindern, in Matthias und Uwe beim Anblick der Strände das Fernweh zu wecken. Es blieb Paulina nicht verborgen.

      »Wenn ihr rüberkommt«, bot sie ihnen an, »könntet ihr euch um dieses Haus kümmern, nach dem Rechten sehen und in Spanien Urlaub machen.«

      Gudruns junger Bruder fuhr dazwischen: »Du spinnst! Die Jungs sollen das Risiko auf sich nehmen, in den Westen abzuhauen, für Jahre in den Knast zu gehen, um bei dir den Hausmeister zu spielen?«

      Paulina schüttelte mit dem Kopf. »Wenn ihr Staroskis zu dumm seid, eine Chance zu erkennen und zu ergreifen, dann tut es mir leid.«

      Sie blickte ihre Cousins an, sah in Matthias’ blaue, gütig wirkende Augen, und die nach ihrer Meinung verschlagenen kleinen Iltisaugen von Uwe, deutete auf Matthias und erklärte: »Eigentlich brauche ich nur den. Der scheint