Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke


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Strich aus­lief, auf dem Pa­pier.

      Ich be­gann, dies zu ent­zif­fern.

      »Ich bin am Knie ver­letzt, ich glau­be, mei­ne Knieschei­be ist ge­bro­chen, und ich kann we­der lau­fen noch krie­chen«, be­gann es – ziem­lich deut­lich ge­schrie­ben.

      Dann wei­ter le­ser­lich: »Sie ha­ben mich seit ei­ni­ger Zeit ge­jagt, und es ist nur eine Fra­ge der –« hier schi­en das Wort »Zeit« ge­schrie­ben ge­we­sen zu sein, war aber zu­guns­ten von et­was Un­le­ser­li­chem aus­ge­stri­chen – »dass sie mich fan­gen. Sie ha­ben mich völ­lig ein­ge­schlos­sen.«

      Dann wur­de die Schrift krampf­haft. »Ich kann sie hö­ren«, rief ich, moch­ten die Schrift­zü­ge be­deu­ten, und dann wa­ren sie eine Zeit lang völ­lig un­le­ser­lich. Dann folg­te eine klei­ne Rei­he von ganz deut­li­chen Wor­ten: »eine völ­lig an­de­re Art von Se­le­ni­ten, die zu lei­ten schei­nen – –« Die Schrift wur­de wie­der ein blo­ßer has­ti­ger Wirr­warr.

      »Sie ha­ben grö­ße­re Hirn­scha­len – – viel grö­ße­re, und schlan­ke­re Kör­per, und sehr kur­ze Bei­ne. Sie ma­chen lei­se Geräusche und be­we­gen sich mit or­ga­ni­sier­ter Über­le­gung … Und ob­gleich ich ver­wun­det und hilf­los da­lie­ge, gibt mir ihre Er­schei­nung doch noch Hoff­nung –« Das war ganz Ca­vor. »Sie ha­ben nicht auf mich ge­schos­sen und auch nicht ver­sucht … Scha­den … Ich ge­den­ke – –«

      Dann kam der plötz­li­che Strich des Blei­stifts quer über das Pa­pier und auf dem Rücken und den Rän­dern – Blut!

      Und als ich stu­pid und ver­blüfft da­stand, mit die­ser ver­wir­ren­den Re­li­quie in der Hand, be­rühr­te einen Mo­ment et­was sehr Leich­tes und Kal­tes mei­ne Hand und hör­te dann auf zu sein, und dann flog et­was, ein klei­ner, wei­ßer Fleck, quer durch einen Schat­ten. Es war eine win­zi­ge Schnee­flo­cke, die ers­te Schnee­flo­cke, der He­rold der Nacht.

      Ich fuhr zu­sam­men und blick­te auf, und der Him­mel war jetzt fast schwarz ge­wor­den, und er war dicht be­setzt mit ei­ner sich sam­meln­den Men­ge kalt wach­sa­mer Ster­ne. Ich blick­te nach Os­ten, und das Licht die­ser ver­schrumpf­ten Welt war mit düs­te­rer Bron­ze ge­tönt; nach Wes­ten, und die Son­ne, der jetzt ein dich­ter wer­den­der wei­ßer Ne­bel, die Hälf­te ih­rer Wär­me und ih­res Glan­zes raub­te, be­rühr­te den Kra­ter­rand, sank au­ßer Sicht, und all die Sträu­cher und die za­cki­gen und ge­türm­ten Fel­sen ho­ben sich in ei­nem spit­zi­gen Wirr­warr schwar­zer Ge­stal­ten ge­gen sie ab. In den großen See des Dun­kels nach Wes­ten sank ein wei­ter Ne­bel­kranz. Ein kal­ter Wind ließ den gan­zen Kra­ter er­schau­ern. Plötz­lich stand ich auf einen Mo­ment in ei­ner Wol­ke fal­len­den Schnees, und die gan­ze Welt rings schi­en mir grau und dun­kel.

      Und dann hör­te ich, nicht laut und durch­drin­gend wie zu­erst, son­dern blass und un­deut­lich wie eine ster­ben­de Stim­me je­nes sel­be Schla­gen, je­nes Schla­gen, das die An­kunft des Ta­ges will­kom­men ge­hei­ßen hat­te: Bumm! … Bumm! … Bumm! …

      Es echo­te im Kra­ter rings, es schi­en mit dem Po­chen der grö­ße­ren Ster­ne zu po­chen, der blut­ro­te Bo­gen der Son­nen­schei­be sank, als es hin­auf­dröhn­te: Bumm! … Bumm! … Bumm! …

      Was war Ca­vor zu­ge­sto­ßen? Wäh­rend des gan­zen Schla­gens stand ich stumpf­sin­nig da, und schließ­lich hör­te das Schla­gen auf.

      Und plötz­lich schloss sich da un­ten die of­fe­ne Mün­dung des Tun­nels wie ein Auge und ver­schwand dem Blick.

      Jetzt war ich wirk­lich al­lein.

      Über mir, um mich, mich um­schlie­ßend, mich im­mer en­ger um­ar­mend, – lag das Ewi­ge; das, was vor dem An­fang war, und das, was über das Ende hin­aus tri­um­phiert; jene un­ge­heu­re Lee­re, in der al­les Licht und Le­ben und Sein nur der dün­ne und ver­schwin­den­de Glanz ei­nes fal­len­den Ster­nes ist – die Käl­te, die Stil­le, das Schwei­gen – die un­end­li­che und end­gil­ti­ge Nacht des Raums.

      Die Emp­fin­dung der Ein­sam­keit und Ver­las­sen­heit wur­de zum Ge­fühl ei­ner über­wäl­ti­gen­den We­sen­heit, die sich zu mir neig­te, die mich fast be­rühr­te.

      »Nein!«, rief ich. »Nein! Noch nicht! Noch nicht! War­te! War­te! O, war­te!« Mei­ne Stim­me stieg zu ei­nem Schrei. Ich schleu­der­te das zer­knüll­te Pa­pier von mir, klet­ter­te auf den Kamm zu­rück, um mei­ne Rich­tung zu fin­den, und sprang dann mit al­lem Wil­len, der in mir war, auf das Zei­chen zu, das ich zu­rück­ge­las­sen hat­te, und das jetzt fern und dun­kel schon am Ran­de des Schat­tens lag.

      Sprung, Sprung, Sprung, und je­der Sprung dau­er­te schier sie­ben Jah­re.

      Vor mir sank und sank der blei­che, schlan­ge­num­gür­te­te Bo­gen der Son­ne, und der vor­rücken­de Schal­ten flog, um die Sphä­re zu fas­sen, ehe ich sie er­rei­chen konn­te. Ich war noch zwei Mei­len ent­fernt, hun­dert Sprün­ge oder mehr, und die Luft um mich wur­de dün­ner, wie sie un­ter ei­ner Luft­pum­pe dün­ner wird, und die Käl­te griff mir nach den Glie­dern. Aber wäre ich ge­stor­ben, ich wäre im Sprung ge­stor­ben. Ein­mal, und dann öf­ter, glitt mein Fuß auf dem fal­len­den Schnee aus, als ich sprang, und das ver­kürz­te mei­nen Sprung; ein­mal sprang ich zu kurz und fiel in Bü­sche, die in Staub­split­ter und Nichts zer­krach­ten und zer­bra­chen, und ein­mal stol­per­te ich im Fall und roll­te kopf­über in eine Schlucht und blu­te­te, als ich, zer­quetscht und über mei­ne Rich­tung un­ge­wiss, wie­der auf­stand.

      Aber sol­che Zwi­schen­fäl­le wa­ren wie nichts ge­gen die Zei­ten, die furcht­ba­ren Pau­sen, wäh­rend de­rer man durch die Luft auf jene stei­gen­de Flut der Nacht zu­flog. Mein Atem wur­de zu ei­nem pfei­fen­den Geräusch, und es war, als wir­bel­ten mir Mes­ser in den Lun­gen. Das Herz schi­en mir ge­gen den höchs­ten Punkt des Schä­dels zu po­chen. »Wer­de ich sie er­rei­chen? O Him­mel! wer­de ich sie er­rei­chen?«

      Mein gan­zes We­sen wur­de Angst.

      »Leg dich hin!«, schrie mein Schmerz und mei­ne Verzweif­lung, »leg dich hin!«

      Je nä­her ich mich hin­ar­bei­te­te, umso furcht­ba­rer fern er­schi­en sie. Ich war taub, ich stol­per­te, ich stieß und schnitt mich und blu­te­te nicht.

      Sie kam in Sicht.

      Ich fiel auf alle Vie­re, und mei­ne Lun­gen pfif­fen.

      Ich kroch. Der Reif sam­mel­te sich mir auf den Lip­pen, Eis­zap­fen hin­gen mir am Schnurr­bart, ich war weiß von der ge­frie­ren­den At­mo­sphä­re.

      Ich war zwölf Me­ter von ihr ent­fernt. Die Au­gen wa­ren mir dun­kel ge­wor­den. »Leg dich hin!«, schrie die Verzweif­lung, »leg dich hin!«

      Ich be­rühr­te sie und blieb ste­hen. »Zu spät!«, schrie die Verzweif­lung, »leg dich hin!«

      Ich kämpf­te steif da­ge­gen. Ich saß auf dem Rand des Ein­stei­ge­lochs, ein ver­dumm­tes, halb­to­tes We­sen. Rings um mich war der Schnee. Ich schob mich hin­ein. Drin­nen war noch ein we­nig wär­me­re Luft.

      Die Schnee­flo­cken – die Luft­flo­cken – tanz­ten um mich her­ein, als ich mit er­star­ren­den Fin­gern den De­ckel ein­zu­schie­ben ver­such­te und ihn fest und hart ein­schub. Ich schluchz­te. »Ich will«, schnat­ter­te ich zwi­schen den Zäh­nen. Und dann wand­te ich mich mit Fin­gern, die zit­ter­ten und sich ge­brech­lich an­fühl­ten, zu den Ja­lou­sie­knöp­fen.

      Als