Patricia Vandenberg

Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman


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Wirkung der Spritze abwartete und die Patientin beobachtete, erzählte ihm Frau Mahler, dass sie sich ein bisschen um die alte Dame, die Charlotte von Dehlen hieß, kümmere.

      »Sie wollte ja keinen Arzt, weil sie nicht versichert ist«, flüsterte Frau Mahler, die nicht viel jünger war als Frau von Dehlen. »Aber ich dachte mir, dass man mit Ihnen reden kann, Herr Doktor. Sie sind ja nicht so, dass Sie gleich einen Krankenschein haben wollen.«

      Daniel legte den Finger auf den Mund, denn er sah, dass Frau von Dehlen nun wieder zu sich kam. Sein Blick ruhte unentwegt auf dem feinen, faltigen Gesicht.

      Die Kranke sprach mit sich selbst, auch das merkte er bald.

      »Nur ein paar hundert Mark sind doch zu wenig«, flüsterte sie. »Für mein Begräbnis sollte es schon reichen, Herr Simmer.«

      Daniel schob Frau Mahler in das Nebenzimmer, das mit schönen alten Möbeln ausgestattet war.

      »Wissen Sie, was Frau von Dehlen meint?«, fragte er.

      Frau Mahler nickte. »Der Simmer war hier. Ein Halsabschneider. Er luchst ihr die schönsten Stücke für ein Butterbrot ab, aber sie muss ja leben. Ihr Meißner Service wollte sie verkaufen. Fünfhundert Mark wollte er ihr geben, und darüber hat sie sich aufgeregt. Sie hat ja nicht viel Ahnung, was das heute wert ist, und ich mag nichts sagen, damit sie nicht meint, ich wollte was von ihr haben. Sie will mir doch schon dauernd etwas schenken.«

      »Hat sie keine Angehörigen?«, fragte Daniel.

      »Gar keine mehr. Sie hat schrecklich viel durchgemacht. Muss mal sehr reich gewesen sein. Aber so sieht es dann aus, wenn man alt geworden ist und nicht mal eine Rente bekommt. Ihren ganzen Schmuck hat sie schon verkauft, aber dabei hat man sie bestimmt auch übers Ohr gehauen.«

      »Ich muss wieder zu ihr«, sagte Daniel. »Später, Frau Mahler.«

      Er setzte sich zu Frau von Dehlen ans Bett, ergriff ihre feine, abgemagerte Hand und blickte in zwei Augen, die alles Leid der Welt in sich bargen.

      »Ich bin Dr. Norden«, sagte er. »Geht es Ihnen wieder besser, Frau von Dehlen?«

      »Ich kann keinen Arzt bezahlen«, flüsterte sie.

      »Pssst«, machte er, »davon reden wir nicht. Wie fühlen Sie sich?«

      »Müde.«

      »Dann werden Sie jetzt wunderbar schlafen«, sagte er. »Morgen komme ich wieder.«

      »Vielleicht wache ich nicht mehr auf. Es wäre wohl das Beste, aber schuldig bin ich noch nie etwas geblieben. Würden Sie bitte diesen Leuchter als Honorar nehmen?«

      Daniel blickte auf den herrlichen silbernen Leuchter, der dreiarmig auf dem niederen Tisch stand.

      »Er ist ein Vermögen wert«, sagte er.

      »Herr Simmer sagt, dass man heute nichts mehr dafür bekommt«, flüsterte die Kranke.

      Dieser Herr Simmer schien ein ganz gemeiner Ausbeuter zu sein, der eine alte, kranke Frau schamlos betrog.

      »Sie sollten mit Herrn Simmer keine Geschäfte machen, gnädige Frau«, sagte Daniel, weil er meinte, dass ihr diese Anrede wohl zustünde und man ihr helfen müsse.

      »Aber ich kenne niemanden, der mir etwas abkauft«, murmelte sie. »Ich kann doch nicht hausieren gehen. Wissen Sie, wie es ist, wenn man der Welt entwachsen ist, in der man alt wurde. Ich kenne und verstehe diese Welt nicht mehr. Der einzige Mensch, der gut zu mir ist, ist Frau Mahler, und sie will nie etwas annehmen. Von diesen Dingen, die einmal so selbstverständlich zu meinem Leben gehörten, kann ich nichts mitnehmen. Aber solange es mir von Gott bestimmt ist, muss ich leben. Es soll niemand sagen, dass eine Dehlen unwürdig gestorben ist.«

      Stolz war sie und vornehm. Nein, sie passte gewiss nicht in diese raue Welt, in der man sich behaupten musste, um nicht unterzugehen. Aber man konnte nicht teilnahmslos zusehen, wie sie ausgeplündert wurde.

      »Für diesen Leuchter hätten Sie hundert Krankenbesuche gut, Frau von Dehlen«, sagte Daniel. »Aber wir können uns auch einigen. Sie verkaufen mir den Leuchter zu dem Preis, zu dem er von einem Sachverständigen geschätzt wird. Meine Frau liebt diese antiken Stücke.«

      Sie sah ihn lange an. »Sie wollen mir helfen«, flüsterte sie. »Ich lese es in Ihrem Gesicht. Aber einem Menschen, der mir in der Not beisteht, kann ich nichts verkaufen.«

      »Und ich kann nichts annehmen, was so wertvoll ist«, sagte Daniel. »Sie haben mich nicht gerufen, und ich werde kein Honorar verlangen.«

      »Herr Simmer hätte mir fünfzig Mark für den Leuchter gegeben, aber nur, wenn ich ihm das Service verkaufe«, sagte sie.

      »Ich bin zwar kein Sachverständiger, aber ich meine, dass der Leuchter allein mindestens tausend Mark wert ist und ein Meißner Service hat heute Liebhaberwert. Darf ich Ihnen jemanden schicken, der Ihnen einen angemessenen Preis bezahlen würde?«

      »Herr Simmer sagt doch aber, dass die Leute heute lieber Häuser und Grundstücke kaufen als den alten Plunder, wie er es nennt.«

      »Dann ist Herr Simmer nicht nur ein Lügner, sondern ein Betrüger. Sie tun gut daran, ihn nicht mehr in Ihre Wohnung zu lassen, gnädige Frau. Wenn Sie den Leuchter verkaufen wollen, nehme ich ihn gern, bevor Herr Simmer ihn mir wegschnappt. Aber ich zahle das, was er wert ist.«

      »Sie sind meinetwegen so spät abends gekommen«, sagte Frau von Dehlen. »Ich war einmal bei einem Arzt vor ein paar Monaten. Er hat hundert Mark für die Konsultation verlangt und mir nicht geholfen. Sie haben mir geholfen und sind zu mir gekommen. Und Sie sprechen mit mir, als würden wir uns schon lange kennen.«

      Daniel hielt die feine Hand. Sicher waren sie einmal reiche, mächtige Leute, dachte er. Nicht von jener Art, die ihr Geld zur Schau stellten, sonst könnte man sie nicht so gemein betrügen. Diesem Herrn Simmer müsste man eigentlich auf die Finger klopfen.

      Wie lange wird sie noch leben, überlegte er. Sie denkt ja schon an ihren Tod und daran, dass eine von Dehlen nicht unwürdig sterben sollte. Musste man nicht etwas tun, dass sie noch eine kurze Zeit friedlich leben und dann auch sterben konnte, ohne den Gedanken mitzunehmen, dass diese Welt nichts Schönes mehr hatte?

      »Ich möchte Ihnen einen Tausch vorschlagen, gnädige Frau«, sagte Daniel. »Sie werden sich ein paar Wochen auf der Insel der Hoffnung erholen und dafür schenken Sie mir den Leuchter, weil Sie ja anscheinend so gern schenken.« Es gelang ihm sogar, dies humorvoll zu sagen.

      »Insel der Hoffnung, wie schön das klingt«, flüsterte sie. »Was ist das?«

      Er erzählte ihr von der Insel, und ihr feines Gesicht verklärte sich immer mehr.

      »Es wäre schön, wenn ich so etwas noch kennenlernen dürfte. Wirklichen Frieden nach all den schlimmen Jahren. Aber ich habe mir nie etwas schenken lassen, Herr Dr. Norden. Wenn sich ein Käufer für das Service findet, der einen Preis zahlt, mit dem ich wiederum dann den Aufenthalt auf der Insel der Hoffnung bezahlen kann, würde ich gern dorthin gehen.«

      »Ich werde Ihnen diesen Käufer morgen bringen, gnädige Frau, und übermorgen wird mein Schwiegervater Sie zur Insel mitnehmen, wenn Sie wollen.«

      »Vollbringen Sie Wunder?«, fragte sie mit einem feinen Lächeln. »Ich meinte eben noch, sterben zu müssen, und fühle mich jetzt wohl, wie schon lange nicht mehr. Ja, ich wollte sterben und jetzt möchte ich leben, um diese Insel der Hoffnung zu sehen. So viel Bitternis hat sich in mir angesammelt und ist nun wie weggeblasen. Aber wenn Sie jetzt nicht sofort den Leuchter mitnehmen und Ihrer jungen Frau dann zum Willkommen auf den Tisch stellen, will ich Sie nie wieder hier sehen und Herr Simmer soll mich nur ruhig weiterhin um meinen letzten Besitz betrügen.«

      Daniel zog die feine Hand an seine Lippen. »Das klingt gut, Frau von Dehlen«, sagte er lächelnd. »Ich beuge mich dem stärkeren Willen.«

      »Sie sind wie mein Amadeus«, sagte sie leise. »Mein Sohn, mein geliebter Sohn. Er zog hinaus in den Krieg in dem Glauben, dass die Gerechtigkeit und die Menschlichkeit siegen müssen. Es ist gut, dass er nicht erfahren