Inge heute merkwürdig unruhig vor. Immer wieder sah sie zur Tür, zerstreut, fast ängstlich.
Und da trat Viktoria ein. Mit einer Unsicherheit, die man nicht an ihr gewohnt war, stellte Carla die beiden Damen einander vor.
»Ich wollte nur schnell das Gemüse holen, Frau Richter«, erklärte Viktoria stockend.
Einerseits der Gruber-Bauer, andererseits Gemüse, wie vertrug sich das? Und dann dieser gehetzte Ausdruck in dem Gesicht von Frau Burg, die Unruhe bei Carla Richter?
»Komm, Bambi, Papi wartet auf den Tabak«, bemerkte Inge. »Vergessen Sie den Tisch am Sonntag nicht, Frau Richter.«
»Bestimmt nicht«, versicherte Carla, aber sie sagte es so, als wäre sie mit ihren Gedanken weit entfernt.
»Auf Wiedersehen, Frau Burg«, sagte inzwischen Bambi.
Inge Auerbach warf der jungen Frau noch einen Blick zu.
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich so in Eile bin«, flüsterte Viktoria.
Sie brauchte sich doch bei ihr nicht zu entschuldigen. Das klang fast nach einem schlechten Gewissen. Aber so erschien es Inge nur, nach dem, was sie gesehen hatte. Sie wollte sich nicht zu Vermutungen hinreißen lassen, aber sehr merkwürdig war das schon.
»Warum holt denn Frau Burg das Gemüse immer bei Richters?« fragte Bambi.
»Das weiß ich doch nicht. Vermutlich haben sie sich angefreundet, und Frau Richter hat es ihr angeboten.«
»Sie waren beide ein bißchen komisch, findest du nicht, Mami?«
»Sie haben beide nur viel zu tun«, lenkte Inge ab.
»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, sagte Viktoria zu Carla. »Bitte, denken Sie nichts Falsches. Ich werde es Ihnen später einmal erklären. Ich bin sehr in Ihrer Schuld.«
Carla wagte nicht, eine Frage zu stellen, obgleich es ihr auf der Zunge brannte. Ihr war das alles recht fatal. Aber zum Trost sagte sie sich, daß Dr. Rückert sich nicht eingeschaltet hätte, wenn es um undurchsichtige Dinge ginge.
Sie gab sich ihren Gedanken hin und rief sich in die Erinnerung zurück, wie es gewesen war, als Ria Burg zum erstenmal den »Seeblick« betrat.
Sie hatte nach der Adresse von Till Jaleck gefragt, so nebenbei eigentlich, und sie selbst hatte vermutet, daß sie sich um diese Stellung bewerben wollte. Ja, so war es gewesen. Angefangen hatte sie, nicht Ria.
Un nun dieses merkwürdige Interesse von Korbinian Gruber. Er war doch nie nach Hohenborn gefahren, erst heute, nachdem er Frau Burg kennengelernt hatte. Oder kannte er sie schon von früher?
Sosehr Carla auch darüber nachgrübelte, sie kam zu keiner Erkenntnis.
Doch dann wurde sie abgelenkt, denn eine ganze Gruppe von Gästen traf ein.
*
Abgehetzt kam Viktoria daheim an. Daheim…! Ja, das dachte sie, als sie die Tür aufschloß, und es war ein eigentümliches Gefühl.
Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand. Ihr Herz jagte. Sie schloß die Augen, und als sie sie wieder aufschlug, stand Till vor ihr.
Er hatte die Tasche in der Hand.
»Sie ist ziemlich schwer«, stellte er fest. Ein merkwürdiger Unterton war in seiner Stimme, als könnte er es nicht glauben, daß sie wirklich Gemüse heimbrachte.
»Frau Richter setzt halt einen guten Appetit bei uns voraus«, sagte Viktoria. »Sind die Kinder brav?«
»Das möchte ich ihnen doch geraten haben«, lächelte er. »Ich konnte sie nicht so verwöhnen wie Sie.«
»Ich konnte nicht schneller da sein«, erklärte sie entschuldigend. »Frau Richter hatte noch Besuch.«
»Ich habe doch gesagt, daß Sie sich Zeit lassen können. Und ganz bestimmt wäre es besser gewesen, wenn wir das Gemüse mit dem Wagen geholt hätten. Sie sind ja ganz erschöpft, Ria.«
Es fiel ihm nicht mehr schwer, sie Ria zu nennen, obgleich er sehr viel lieber Vicky gesagt hätte. Und jetzt hätte er sie noch viel lieber in die Arme genommen, so abgehetzt sah sie aus.
Augenblicklich dachte er wirklich, daß sie nur wegen des Gemüses zum »Seeblick« gegangen war. Andere Vermutungen schwiegen.
Es mochte schon möglich sein, daß sie einen Übereifer zeigte, um als Haushälterin überzeugend zu wirken. Er traute ihr jetzt alles zu.
Aber seine Gefühle für Viktoria waren so unverändert stark, daß er diese Komödie mit tragischem Anklang nicht weiterspielen wollte.
Und doch ergab sich wieder keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Das konnte man ja nicht im Vorübergehen tun, in wenigen Minuten. Dazu gehörten Zeit, Besinnlichkeit, Abstand vom Alltag.
Die Kinder riefen nach ihr, sehr ungeduldig, wie zu hören war. Wie sehr die beiden schon an ihr hingen!
Er beobachtete sie durch die offenstehende Tür, wie sie Corri in die Arme nahm, wie Christoph sich an sie klammerte.
»Ich habe immer Angst, daß du nicht wiederkommst, Ria«, jammerte er. »Versprich mir, daß du bei uns bleibst!«
»Ich möchte ja so gern bei euch bleiben«, flüsterte sie. Doch Till konnte es hören.
Das war die Wahrheit, das sagte sie nicht oberflächlich hin. Und er wäre vollends glücklich gewesen, wenn er sie jetzt in die Arme hätte nehmen können.
*
Sie hatte mit ihm am Tisch gesessen, nachdem die Kinder eingeschlafen waren. Er hatte sie darum gebeten, und Viktoria hatte nicht widersprochen.
Wenn es nur nicht so entsetzlich schwer gewesen wäre, einen Anfang zu finden. Gerade hatte er sich dazu aufgerafft, als sie sich erhob.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie leise. »Ich habe etwas Kopfweh und möchte mich hinlegen. Gute Nacht.«
Sie sagte es mit einer Stimme, die ihm den Atem stocken ließ, und er war unfähig, etwas darauf zu erwidern.
Er lauschte auf ihre Schritte, die so leicht und leise waren, daß er sie nur ahnen konnte. Ihm war zumute wie an jenem Tag, als sie erst stundenlang Hand in Hand am See entlanggegangen waren und er sich so heiß gewünscht hatte, sie einmal küssen zu dürfen.
Er hatte keinerlei Erfahrungen mit Mädchen gehabt. Viktoria war die erste, die ihm etwas bedeutete, die er liebte. Ja, liebte, denn jedes andere Wort war dafür zu gering.
Und dann hatte er sie geküßt, und sie hatte ihn wieder geküßt. Sie waren jung und glücklich gewesen und hatten an nichts anderes gedacht. Nur an den Augenblick, diese Stunde.
Wie war es dann später gewesen in dieser trostlosen Zeit des Wartens, der nicht ermüdenden Hoffnung?
Er war mit dem Gedanken an Viktoria eingeschlafen und wieder aufgewacht, bis dann die schlaflosen Nächte der Verzweiflung kamen, die ihm deutlich machten, daß er sie verloren hatte.
Sechs Jahre hatte es gedauert, bis er sich gewaltsam aus der Verstrickung lösen wollte, und dabei hatte ihm dann Gerda geholfen.
Sie hatte ihn verstanden, sie hatte alles gewußt, auch daß er ihr nicht sein ganzes Herz schenken konnte. Sie hatte sich damit zufriedengegeben, was für sie blieb. Kameradschaft, Vertrauen und die Bereitschaft, ihr ein guter Mann zu sein.
Gerda hatte damit gerechnet, daß sie ihn eines Tages wieder verlieren würde, wenn Viktoria zurückkäme. Aber sie kam nicht zurück.
Erst jetzt, nachdem Gerdas Leben verlöscht war wie eine müde Flamme, die nicht genügend mit Sauerstoff genährt wurde, war sie gekommen, als wäre es vorausbestimmt gewesen.
Aber was wußte er denn von Viktorias Gefühlen, ihren Gedanken?
Er hob lauschend den Kopf. Da waren doch wieder Schritte, und nun wurde die Tür geschlossen!
Er sprang auf und ging