1931) der zweite Sohn des Landwirtes und Schlossbesitzers Rudolf und seiner Frau Käthe.
Vater Rudolf wird als Sohn eines deutschen Bankdirektors aus Bremen in Moskau geboren und flüchtet nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit seinen Eltern in das neutrale Schweden. Nach dem Krieg lassen sich seine Eltern auf einem Gut in Kärnten nieder, das Udos Großvater seinen fünf Söhnen gemeinsam geschenkt hatte.
Udo wächst also im elterlichen Schloss Ottmanach in Magdalensberg (Klagenfurt Land) als einer von den – bei der Volkszählung 1934 dokumentierten – 2014 Einwohnern auf. Das geschichtsträchtige Schloss (1587 erstmals urkundlich erwähnt) hat durch oftmaligen Besitzwechsel von sich reden gemacht. Sein herrschaftliches Aussehen verdankt der innerhalb einer Parkmauer gelegene zweigeschossige Bau den Fenstern mit Giebeln und Brüstungen des Hauptgeschosses. Zwischen den Fenstern sind eindrucksvolle Pilaster eingearbeitet. Das runde Portal mit gewelltem Giebel gibt den Blick auf einen schmalen, rechteckigen Hof frei.
»Meine Mutter erzählte mir, dass ich alle Kinderlieder singen konnte, da war ich noch kein Jahr alt. Ich konnte noch nicht ›Mama‹ sagen, aber Kinderlieder singen! Wenn ich krank war, konnte sie mich nur mit Singen beruhigen, nicht mit Erzählen. Beethoven soll mir schon mit drei Jahren gefallen haben. Vor dem Radio soll ich gesessen und mir zweistündige Konzerte angehört haben. Von Kind auf war ich immer mit Musik verbunden.« Es heißt, er war ein sensibles Kerlchen. »Ich ließ keine einzige Kinderkrankheit aus«, erinnert sich Udo.
Mit fünf Jahren beginnt er zu musizieren. »Die blauen Dragoner, sie reiten« ist das erste Lied, das er auf einer Mundharmonika spielt. Zwei Jahre später lernt der Siebenjährige Akkordeon zu spielen und begeistert in einem Flüchtlingslager seine Zuhörer. Und die Menschen jubeln ihm nicht nur zu, weil eine solche Darbietung willkommene Abwechslung bedeutet, sondern weil der Junge wirklich spielen kann. Udo Jürgens hat dieses erste »öffentliche Auftreten« nie vergessen. Das war 1945, in der Nähe von Kiel, wohin es die Familie Bockelmann bei Kriegsende verschlug, ehe sie bald wieder auf Schloss Ottmanach zurückkehren konnte.
Wieder zuhause, widmet Udo sich mit dreizehn Jahren dem Piano. Er ist inzwischen nicht mehr das Nesthäkchen der Familie – seit 1943 übernimmt diesen Part sein Bruder Manfred –, sondern hat jetzt die Position des »Sandwich-Kindes« inne. »Für das mittlere Kind verschärft sich die Lage durch die Ankunft von Nummer drei, weil es sich jetzt nicht nur ›nach oben‹ durchsetzen muss, sondern auch seinen Status als Nesthäkchen verliert.«1 In der Geschwisterpsychologie gelten solche Kinder als unauffällig und anpassungsfähig. Mittelkinder befinden sich oft in der Ambivalenz, entweder »zu klein« oder »zu groß« für viele Dinge zu sein. Sie kämpfen sich nach oben wie nach unten durch und müssen sich auch gegen so manche Ungerechtigkeiten des Erziehungsalltags behaupten: »Die beiden Großen helfen heute Nachmittag dem Vater, die beiden Kleinen müssen früher schlafen gehen!« Das mittlere Kind kommt meistens doppelt dran. Heißt das auch »doppelt gute Voraussetzungen fürs Leben«?
Bei Udo wäre es gut, denn Erfolg wird bei den Bockelmanns großgeschrieben. Udos Großvater ist Bankier im zaristischen Russland. Sein Vater leitet als Landwirt die Güter. Die vier Brüder seines Vaters setzen die Tradition des Erfolges fort:
•Erwin wird später der deutsche Chef des Energieunternehmens BP und der erste deutsche Präsident des Welterdölkongresses,
•Werner, Rechtsanwalt, wird der erste Nachkriegsbürgermeister der Stadt Lüneburg und Oberbürgermeister von Frankfurt am Main,
•Gert übernimmt 1944 nach dem landwirtschaftlichen Studium die Verwaltung von Gut Barendorf bei Lüneburg,
•Jonny wird Rechtsanwalt und Chef von BP Hessen.
Udos Onkel mütterlicherseits ist der deutsch-französische Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Dadaismus und Surrealismus in bildender Kunst und Literatur.
Doch Udo ist sich der Familientradition offenbar bewusst. Er bringt sich das Klavierspielen selbst bei. Und er weiß genau, was er will. Auch von den Eltern lässt er sich nicht davon abhalten. Er spielt jedes Instrument außer Geige. Dazu hätte er ein Studium gebraucht, aber da hätte ihm die Zeit nie gereicht. Udo hat nur Musik im Kopf. Manchmal wünscht er sich, einige Minuten am Tag nicht an Musik zu denken. Sie prägt seinen Tagesablauf. Die folgende Geschichte veranschaulicht, welche Faszination die Musik auf ihn ausübte: Einmal, als er mit seinem Vater durch die Stadt ging, blieb er plötzlich stehen, weil er Musik hörte. Sein Vater vernahm nichts, gab Udo aber einen Zettel, damit er die Melodie aufschreiben konnte. Das Ergebnis war ein zauberhafter Musette-Walzer, den Udo mit dreizehn Jahren komponierte.
»Ich erinnere mich, wenn ich nachts alleine zuhause war – was leider nicht sehr oft vorgekommen ist –, bin ich aufgestanden, habe mich ans Klavier gesetzt und gespielt.«
Die Eltern nahmen das Talent ihres Sohnes wahr. Nach Opernbesuchen im Klagenfurter Stadttheater konnte Udo Jürgens nach Eigenaussage das Gehörte sogleich »mit absoluter Sicherheit« nachspielen. Und so geschah es, dass nicht nur einmal Musikpädagogen aus Klagenfurt, Innsbruck und Wien anreisten, um sich dieses »Wunderkind aus Kärnten« anzuhören. Seine Improvisationsgabe war schon damals beeindruckend.
»Ich habe natürlich wie alle Kinder meine Träume vom Lokomotivführer gehabt, und Pirat wollte man sowieso sein, damals gab es ja diese Piratenfilme. Aber wie die Musik für mich fühlbar und hörbar wurde und ich selbst gemerkt habe, ich kann spielen – ich hab mir Klavier ja selbst beigebracht, erstaunlich perfekt übrigens –, da merkte ich, dass ich etwas in der Hand habe, das mein Leben verändern wird.«
Udos Kindheit war wohl nicht leicht. Eine solch außergewöhnliche Begabung ist mit Sicherheit eine Belastung. In musikalischen Belangen war er seinem Alter weit voraus. Wenn er am Klavier saß und spielte, vergaß er alles um sich herum. Aber er war kein schwieriges Kind. Er beschäftigte sich stundenlang mit Musik. Das war seine Welt.
»Ich habe mich als Kind immer kränklich und schwächlich gefühlt, war in der Schule ein bisschen hinterher, auch lebensängstlich – ein Muttersöhnchen würde man heute sagen. Die Musik hat mich aus dieser Situation befreit.«
Bei der Hitlerjugend erhielt er wegen seiner schwachen körperlichen Leistungen einmal eine brutale Ohrfeige, die ihm eine verminderte Hörfähigkeit auf seinem linken Ohr eintrug.
1948, mit vierzehn Jahren, beginnt er sein Musikstudium am Konservatorium in Klagenfurt neben der Schulausbildung am Realgymnasium und belegt die Fächer Klavier, Harmonie, Komposition und Gesang. Für Udo ist die Schule eine Belastung, besucht er doch gleichzeitig das Konservatorium und die Schule. Doch er weiß, dass ohne Bildung gar nichts geht. »Ich bin einer der wenigen in der Branche, die die Musik von Grund auf gelernt haben«, wird er mir fünfzig Jahre später bei einem unserer vielen Interviews voller Stolz erzählen. Mit seiner Band tritt er jeden Samstag und Sonntag in teils schmuddeligen Lokalen auf. Als er auf dem St. Veiter Wiesenmarkt – einer Art kleinem Oktoberfest – zehn Tage oder besser gesagt Nächte lang mit nur vier Stunden Pause spielt, ist er erschöpft und seine Finger sind blutig. Auch die Bedenken des Vaters, das Musizieren sei nicht das Richtige für ihn und das Musikmachen neben dem Schulbesuch zu anstrengend, bringen Udo nicht von seinem Ziel ab, einmal auf großen Bühnen zu stehen. Er will lernen, das Publikum zu begeistern, egal, ob alt oder jung.
Im Anschluss an die Studienzeit in Klagenfurt geht er nach Salzburg ans Mozarteum und reiht sich neben Dirigent Herbert von Karajan, Volksoperndirektor Robert Meyer, Schriftsteller Thomas Bernhard, Schauspielerin Johanna von Koczian in die Schar der prominenten Absolventen dieses Instituts ein.
Die Mutter erinnert sich: »Ich weiß noch, wie nervös er war bei den ersten Tourneen, nach dem Krieg. Ganz lächerliche Tourneen, mit dreißig anderen zog er von einer kleinen Stadt in die nächste; es war wirklich nicht schön. Und Udo hat sich nach jedem Auftritt wahnsinnig aufgeregt, er war unglücklich: ›Ich war so schlecht, habe mich so schlecht bewegt … ‹«
Sehr mobil ist der 16-jährige Schüler Udo mit seinem ersten fahrbaren Untersatz, einem Roller mit dem Kennzeichen K 18. 428.
1950 beteiligt er sich an einem Kompositionswettbewerb des Österreichischen Rundfunks und gewinnt mit dem Lied »Je t'aime«