Inge Patsch

Mich in meinem Leben finden


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vergessen hatten und natürlich auch Gott. Ein Jahr vor meinem Tod kam ein eifriger Verfechter der Inquisition auf den Papstthron, Paul IV. Er sperrte sogar Kardinäle, die dem Herrn und den Menschen dienten, in die Engelsburg. Es war grauenvoll und hat mich sehr bekümmert. Doch eines haben diese Fehlhaltungen von Menschen nie geschafft, mir meinen Glauben und die Liebe zu Christus zu nehmen. Die Kirche war nie frei von Spannungen und Missbrauch hat es zu allen Zeiten gegeben. Verständlich ist, dass sich Menschen auf der Erde nach einem Ort sehnen, wo himmlische Ordnung herrscht. Tragisch ist, dass gerade im Namen Christi viel Unrecht und sehr Schlimmes von Kirchenmännern geschehen ist. Ich nehme an, dass auch deshalb immer weniger Menschen bereit sind, zwischen Kirche und Gott zu unterscheiden. Vielleicht ist das nicht ganz richtig formuliert. Menschen machen sehr wohl einen Unterschied, sie wenden sich von der Kirche ab und teilweise fragwürdigen Heilsversprechen zu. Früher hat man Menschen mit Gott gedroht und heute besteht die versteckte Forderung aus einer genauen Handlungsweise, die einzuhalten ist, um glücklich zu sein. Zu viele sind bereit, zweifelhafte Empfehlungen zu befolgen, die auch noch Geld kosten. Meist stellt sich das Erhoffte nicht ein, aber die Sehnsucht des Menschen ist versucht, diese Folgen auszublenden.

      Frankl: Ich stimme Ihnen gerne zu. Neben der groben Vernachlässigung religiöser Sehnsüchte auf der einen Seite gibt es auf der anderen fragwürdige Angebote. Dietrich Bonhoeffer, der leider das Konzentrationslager nicht überlebt hat, hat einen Aufsatz über die menschliche Dummheit geschrieben. Darin beschreibt er, dass wir gegen die Dummheit wehrlos sind. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Dass der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, dass man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten und Parolen zu tun hat.

      Ignatius: Hat nicht der deutsche Philosoph Immanuel Kant gesagt, dass der Mangel an Urteilskraft eigentlich das ist, was man Dummheit nennt, und dass einem solchen Gebrechen gar nicht abzuhelfen ist?

      Frankl: Das war Kant und von ihm stammt auch der Hinweis, dass zwei Dinge ausreichen würden, ein Mensch zu sein: der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir. Also das Staunen über eine sternenklare Nacht und die Schönheit der Natur sowie eine innere Überzeugung, die ich mit Ehrfurcht vor dem Leben bezeichnen möchte.

      Etwa zur gleichen Zeit wie Kant lebte Friedrich Schleiermacher. Er schrieb in einer berühmten Sammlung von Vorträgen „An die Gebildeten unter ihren Verächtern“: „Religion ist die Anschauung des Universums.“ Religion beginnt also mit der Erfahrung des Ganzen und hat zunächst nichts mit Gebräuchen und Ritualen zu tun. Darüber sagt Schleiermacher, dass Religion auf das Gefühl radikaler Abhängigkeit hinweist. Das bedeutet: Ich weiß um mich selbst, dass ich in jeder Hinsicht fragil, abhängig und verletzbar bin. Mir selbst war diese Abhängigkeit zu Lebzeiten sehr bewusst und deswegen habe ich immer wieder betont, dass wir uns hin und wieder mit dem Tod konfrontieren sollten. Denn die Tatsache der zeitlichen Begrenzung unseres Daseins ist der Ansporn, die Zeit und jede Stunde und jeden Tag zu nützen.

      Ignatius: Ich möchte noch einmal zum Sittengesetz von Kant zurückkommen. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang für Sie das menschliche Gewissen?

      Frankl: Vorausschicken möchte ich, dass ich davon überzeugt bin, dass jeder Mensch ein präreflexives Selbstverständnis auf diese Welt mitbringt. Also ein inneres Wissen, welches nicht erst durch ständiges Nachdenken und Reflektieren entstanden, sondern auf eine eigene Weise schon im Menschen angelegt ist. Es muss ihm nur bewusst werden, was er irgendwie ohnehin schon immer weiß. Für mich steht hinter dem Gewissen des Menschen das Du Gottes. Deshalb habe ich das Gewissen als Sinnorgan bezeichnet, als eine Art intuitiven Kompass, der mich und jeden Menschen – sofern er sich dafür interessiert – auf der persönlichen Suche nach Sinn leitet. Es steht außer Frage, dass das Gewissen gepflegt werden muss. Das gilt besonders in einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für viele ihre Geltung zu verlieren scheinen. Gewissenspflege bedeutet, als Mensch hellhörig genug zu sein, um das Leben wahrzunehmen und auf die Fragen, die es uns stellt, menschlich zu antworten.

      Ignatius: Sie haben eine hohe Meinung vom Menschen. Sie trauen ihm viel zu, aber Sie muten ihm auch viel zu. An meine Zeit der Zweifel und Skrupel, die mich auf meiner Pilgerschaft gequält haben, kann ich mich gut erinnern. Immer wieder plagte mich der Gedanke, ich hätte vergessen eine Sünde zu beichten. Da hätte es mich sehr entlastet, wenn ich Ihre Sichtweise früher gekannt hätte. Mich bringt man ständig mit der Unterscheidung der Geister in Verbindung, Sie sofort mit der Suche nach Sinn und mit der Trotzmacht des Geistes. So wie ich das verstanden habe, kann der Mensch stärker sein als das, was ihn kleinzumachen droht. Er kann sich sogar selbst entgegentreten, wenn ihn eine irreale Angst immer wieder daran hindert, etwas zu tun, was in seinen Augen wertvoll ist. Auf der Erde würde ich diese Fähigkeit besonders jenen wünschen, die ein bisschen zu viel Selbstmitleid haben. So wie ich Ihre Trotzmacht des Geistes verstanden habe, kann sich der Mensch von seinen Eigenheiten auch distanzieren.

      Frankl: Ja, ich möchte sagen, dass ich auf diese Entdeckung ein wenig stolz bin. Inspiriert hat mich ein österreichischer Dichter, Johann Nestroy, ein Wiener so wie ich. Der hat in einem seiner Theaterstücke gesagt: „Jetzt bin ich neugierig, wer ist stärker: Ich oder ich?“ Da ich die Berge liebe, mich jedoch Höhenangst plagte, habe ich mich gefragt: „Bin ich stärker oder der Schweinehund in mir, der sich nicht zu klettern traut?“ Wichtig ist für mich zu erwähnen, dass der Wert, den die Bergwelt auf mich ausübte, groß genug war, um mich zu überwinden. Meine Leidenschaft für das Bergsteigen hat mir geholfen, mich von meiner Angst zu distanzieren. Jetzt haben wir aber ständig von mir gesprochen, dabei interessieren mich Ihre Geistlichen Übungen, Ihre Exerzitien sehr.

      Ignatius: Nachdem wir beide in der Ewigkeit angekommen sind, haben wir ja noch ewig Zeit.

      Mit den Exerzitien möchte ich Menschen vor allem zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. Sie sind ein Übungsweg auf der Suche nach Gott, die aufgrund von Texten aus der Bibel Unterstützung erhalten. Im Wesentlichen geht es in den Exerzitien darum, die gegenwärtige Lebensphase ernst zu nehmen und die Liebesfähigkeit des Menschen zu stärken. Die Veränderungen der letzten fünfhundert Jahre haben dazu geführt, dass meine Nachfolger sehr kreative Ideen hatten. Auf diese Weise sind Schreibexerzitien, Filmexerzitien, Wanderexerzitien und vieles andere entstanden, um Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu begleiten und ihnen ihr Leben zuzumuten, aber nicht abzunehmen. Worauf nach wie vor bei allen Exerzitien Wert gelegt wird, ist das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit und das persönliche Gespräch mit einem Begleiter oder einer Begleiterin. Letztlich geht es jedoch nicht um ein Leistenwollen, sondern um den Geist, in dem sich ein Mensch diesem geistlichen Übungsweg stellt. Es geht um die Offenheit, sich von Gott oder vom Leben beschenken zu lassen.

      Frankl: Sie sprechen vom Geist, in dem sich ein Mensch auf den von Ihnen beschriebenen Übungsweg begibt. So wie ich das verstehe, geht es um die innere Einstellung, um die Bereitschaft, sich dem Glauben zu öffnen und sich auf die Stille einzulassen. Der Mensch hat entweder einen Glauben oder einen Aberglauben. Je weniger vom Geist die Rede ist, umso mehr wird von Geistern gesprochen.

      Ignatius: Mir ist schon einige Male aufgefallen, dass Sie eine ganz besondere Fähigkeit haben zu formulieren. Von Ihnen stammt doch auch der Satz: Der Partner unserer tiefsten Selbstgespräche ist Gott. Das stimmt doch, oder?

      Frankl: Ja, das stimmt. Wenn ich in letzter Einsamkeit schlimme Stunden verbracht habe, war mir so, als ob mir Gott zuhört. Ich persönlich mag das Wort Gott. Ich kann aber auch gut verstehen, dass dieser Begriff für manche Menschen – aufgrund ihrer Lebensgeschichte – belastet ist. Da ist es doch sehr sinnvoll, dass Dietrich Bonhoeffer die „guten Mächte“ ins Spiel gebracht hat.