Ursula Neeb

Die Schrecken des Pan


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      Um sechs Uhr früh zum Dienstantritt war Maureen zwar total übermüdet, aber guter Dinge. Nach dem Kino war sie noch mit Joe und Patricia, die ihr angeboten hatten, sich beim Vornamen zu nennen, in ein Pub gegangen. Dort hatten sie sich angeregt unterhalten und es war spät geworden. Maureen zehrte noch von dem schönen Abend und ließ ihn Revue passieren, während sie ins Schwesternzimmer trat, um mit den Kollegen von der Nachtschicht das Übergabe-Gespräch zu führen. Der muskulöse Pfleger Festus Houseknecht, der auch der Oberpfleger der Station war, und die Krankenschwester Ava Cushing saßen am Tisch und blinzelten ihr aus müden Augenschlitzen entgegen.

      »Gibt schlechte Neuigkeiten«, grummelte Festus übellaunig, gleich nachdem sich Maureen zu ihnen gesetzt hatte. »Sir Alfred hat sich gestern Abend nach dem Dinner aus dem Staub gemacht und wurde im Morgengrauen von einer Polizeistreife nahe einer Opiumhöhle am Bahnhof besinnungslos aufgegriffen und zu uns zurückgebracht. Professor Sutton war darüber so verärgert, dass er einen kalten Entzug angeordnet hat – und wir dürfen den Schlamassel jetzt ausbaden. Als der Schotte vorhin zu sich gekommen ist, hat er eine solche Randale veranstaltet, dass ich ihn kurzerhand in die Gummizelle gesteckt habe. Am Lamentieren ist er zwar immer noch, aber die gepolsterten Wände halten schon was ab, sonst wäre das ja auch eine Zumutung für uns und die anderen Patienten. Es wäre gut, wenn du nachher mal nach ihm schauen könntest, Maureen. Vielleicht gelingt es dir ja, ihn zu beschwichtigen. So – und mit der eigentlichen Übergabe warten wir noch, bis endlich auch der Rest von der Tagesschicht eingetrudelt ist. Leider sind nicht alle so pünktlich wie du.«

      Im nächsten Moment wurde an die Tür geklopft, die bei Besprechungen immer geschlossen wurde, und erstaunt gewahrten die Anwesenden die eindrucksvolle Gestalt von Professor Sutton im Türrahmen. Der Anstaltsleiter sah mit seinem sorgfältig ondulierten roten Vollbart, dem gewellten rotblonden Haar und dem markanten Aristokratengesicht wie die lebende Verkörperung von Richard Löwenherz aus – was ihm beim Personal auch diesen Spitznamen eingetragen hatte. Er grüßte schmallippig in die Runde und stellte den jungen Mann mit den blonden Stoppelhaaren, der nach ihm in den Raum getreten war, als Oberinspektor MacFaden von Scotland Yard vor. Den Herren folgten in dezentem Abstand die beiden Krankenschwestern Mildred Winnwood und Heather Atkinson, die sich mit betretenen Mienen im Hintergrund hielten. Als Maureens Blicke über ihre Gesichter schweiften, hatte sie den Eindruck, dass die Kolleginnen den Tränen nahe waren, was sie gleichermaßen erstaunte wie bedrückte.

      Professor Sutton kam gleich zur Sache. »Auf dem Sanatoriums-Gelände, genauer gesagt am Rande des Seerosenteichs, hat eine unserer Patientinnen, die vorhin die Schwäne gefüttert hat, eine schreckliche Entdeckung gemacht«, sagte er mit vor Erregung bebender Stimme.

      Maureen, die ihren Chef nur als beherrschten Vernunftmenschen kannte, war seltsam berührt.

      »Es … es handelt sich um die enthauptete Leiche eines Mannes. Der Kopf des Toten wurde eben von der Polizei im Schilf gefunden. Ich übergebe nun das Wort an Oberinspektor MacFaden, der die Ermittlungen leitet.« Professor Sutton räusperte sich und wies auf den Inspektor.

      »Da die Identität des Toten zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht geklärt ist, können wir momentan nicht gänzlich ausschließen, dass es sich bei ihm um einen Insassen der Heilanstalt handelt. Professor Sutton, der bei der Bergung dabei war, hat das zwar verneint, aber um absolute Klarheit zu erlangen, benötigen wir noch weitere Zeugen«, erläuterte der hochgewachsene Mann im gut geschnittenen Anzug sachlich. »Anhand der zahllosen Einstichstellen in seinen Armen lässt sich vermuten, dass der Tote drogenabhängig war. Daher ist es wichtig, dass sich die Angestellten der Suchtstation die Leiche anschauen, um zu klären, ob es sich möglicherweise um einen früheren Patienten handelt.«

      Die Schwestern seufzten auf. Daraufhin erklärte der Inspektor, es genüge völlig, wenn ein Arzt und eine Schwester bei der Sichtung anwesend seien. Da inzwischen auch der Oberarzt Doktor Eisenberg und die anderen Psychiater der Suchtstation eingetroffen waren, wurde vereinbart, dass Oberpfleger Festus Doktor Eisenberg zur Leichenschau begleiten sollte.

      »Scotland Yard hat in Erfahrung gebracht, dass ein Patient der Suchtstation in der Nacht nicht im Sanatorium war«, fuhr MacFaden fort. »Es geht um den berühmt-berüchtigten Okkultisten Aleister Crowley, der sich derzeit unter dem Decknamen Sir Alfred de Kerval hier aufhält. Im April gab es in Palermo bereits zwei ähnliche Mordfälle und Crowley wurde von den italienischen Kollegen als Täter verdächtigt, was sich jedoch als unbegründet erwies, da er sich zu dieser Zeit bereits im Holloway-Sanatorium aufhielt. Auch wenn ihm diese Morde nicht angelastet werden konnten, erscheint er uns in diesem neuerlichen Mordfall hochgradig verdächtig, da wir in seinem nächtlichen Verschwinden und dem Auffinden der Leiche auf dem Gelände des Sanatoriums einen Zusammenhang vermuten. Diesem Verdacht müssen wir unbedingt nachgehen. Daher möchte ich ihn nun einem ersten Verhör unterziehen.«

      »Der Patient ist momentan in einer so desolaten Verfassung, dass er in eine Gummizelle verlegt werden musste«, meldete sich Oberpfleger Festus zu Wort. »Er befindet sich auf Anordnung von Professor Sutton im kalten Entzug und leidet unter schweren Entzugssyndromen. Nach meinem Dafürhalten ist er kaum vernehmungsfähig.«

      »Davon werden wir uns selber ein Bild machen«, erwiderte der Anstaltsleiter barsch und schlug MacFaden und dem Oberarzt vor, sie zu Crowley zu begleiten.

      »Mr Crowley klagt über ziehende Schmerzen in den Extremitäten und im Rückenbereich. Er leidet außerdem unter heftigem Speichelfluss, Schwitzen, Erbrechen und Durchfall, ist extrem unruhig und halluziniert offenbar. Daher ordne ich an, dass ihm vierhundert Milligramm Morphinsulfat zur Substitution injiziert werden, damit er halbwegs vernehmungsfähig ist. Vorher muss er aber noch gewaschen und frisch eingekleidet werden.« Professor Suttons herrischer Blick richtete sich auf Maureen, die ihrem Vorgesetzten angespannt zugehört hatte. »Können Sie das bitte übernehmen, Schwester Maureen? Er hat eben immer wieder nach Ihnen gefragt und scheint einen Narren an Ihnen gefressen zu haben« Er verzog spöttisch die Mundwinkel, ehe er süffisant hinzufügte: »Darauf würde ich mir aber nicht unbedingt etwas einbilden.«

      Maureen ignorierte seine Bemerkung, erhob sich wortlos vom Stuhl, strich ihre Schwesterntracht glatt und wollte sich schon auf den Weg machen, als Professor Sutton anordnete, Pfleger Festus solle sie begleiten.

      »Der Mann ist möglicherweise ein gefährlicher Mörder und hochgradig geisteskrank, wenn man bedenkt, dass die Leiche enthauptet wurde.«

      Der Inspektor nickte ernst und wandte sich an Maureen und Festus: »Ich muss Sie eindringlich darum bitten, Crowley gegenüber nichts von dem Mord verlautbaren zu lassen. Das ist sehr wichtig für das anschließende Verhör.«

      Nachdem ihm Maureen und der Oberpfleger dies zugesichert hatten, begaben sie sich zum Fäkalienraum. In dem nach scharfen Desinfektionsmitteln riechenden Zimmer unweit der Personal- und Besuchertoiletten, wo die Bettpfannen, die hin und wieder auf der Station Verwendung fanden, ausgeleert und gereinigt wurden, lagerten neben verschiedenen Antiseptika, Hygienepräparaten und Waschutensilien auch Gummihandschuhe – die Maureen, das wusste sie aus Erfahrung, jetzt gut gebrauchen konnte.

      »Glauben Sie, dass Crowley zu einem Mord fähig wäre?«, fragte sie nachdenklich.

      »Diesem kranken Bastard traue ich jede Schandtat zu«, erwiderte Festus prompt. »Ich hatte ja bis vorhin, als Löwenherz uns gesagt hat, dass der Schotte Aleister Crowley ist, nicht die geringste Ahnung, wen wir da bei uns beherbergen. Was ich übrigens eine ziemliche Sauerei finde! Der Alte hätte uns das längst mitteilen müssen. Unsereiner hat ja viel mehr mit den Patienten zu tun und ist deswegen auch am meisten gefährdet bei so einem Irren, der kleine Kinder verspeist«, fluchte er erbittert.

      Maureen wusste, dass er ein eifriger Leser von John Bull und dem Sunday Express war, und ahnte, woraus sich seine Meinung über den Magier speiste. Obgleich sie von Crowley ein differenzierteres Bild hatte, als die Skandalblätter von ihm verbreiteten, war sie doch innerlich hin- und hergerissen. Einerseits sagte ihr ihre Intuition, dass Crowley kein Mörder war, andererseits hätte sie aber auch nicht die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass dem nicht so war. Von solcherart Zweifeln geplagt, trat sie mit dem kleinen Rollwagen, auf dem sich frische