Ursula Neeb

Die Schrecken des Pan


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geschnittenen Haaren unter der weißen Schwesternhaube schicksalsergeben und erhob sich aus ihrem Sessel. »Das wird doch hoffentlich nicht wieder Sir Alfred sein!«

      Als sie auf den langen Flur hinaustrat, an dessen Seiten sich zahllose Zimmerfluchten erstreckten, bestätigte sich ihre Befürchtung. Das Läuten kam aus einer Suite am Ende des Gangs, die von Sir Alfred de Kerval bewohnt wurde, der sie schon den ganzen Abend auf Trapp hielt. Obwohl Maureen erst 18 Jahre alt war, hatte sie ausreichend Erfahrungen mit jedweder Skurrilität und Schrulligkeit ihrer Patienten auf der Entgiftungs-Station des luxuriösen Holloway-Sanatoriums. Die Anstalt war 1873 gegründet worden, um seelisch kranken Menschen aus der Oberschicht die Möglichkeit zu geben, in einer Umgebung zu genesen, die keine Wünsche offen ließ. Doch Sir Alfred, ein rundlicher Herr im Schottenrock, der eine schwarze Perücke und eine Brille mit dunklen Gläsern trug, war noch absonderlicher als die anderen illustren Personen, die sich im Seitenflügel des weitläufigen, schlossartigen Gebäudes von ihren mannigfaltigen Süchten entwöhnten.

      Maureen klopfte an die Tür und trat ein. »Was kann ich für Sie tun, Sir Alfred?«

      Der korpulente Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht lag auf einer Ottomane und stöhnte gequält. »Der Odem unserer Dame könnte mir helfen, Fairy Queen, sonst mache ich heute wieder kein Auge zu.«

      »Tut mir leid, Sir Alfred, aber es gibt keinen Äther«, beschied Maureen dem Patienten freundlich, aber bestimmt. Ihr war inzwischen hinlänglich bekannt, was sich hinter Sir Alfreds kryptischer Umschreibung verbarg. In dieser Hinsicht waren Süchtige alle gleich: Sie wollten so viele Drogen von ihr erhalten wie möglich. »Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie unter Lähmungsgefühlen, Asthma und Kurzatmigkeit leiden. Dass Sie Ihre Krankheiten mit Kokain, Opium, Morphium, Heroin und Äther zu behandeln pflegten, hatte bereits fatale Folgen für Ihre Gesundheit.«

      »Sie haben noch was vergessen, Fairy Queen, nämlich Haschisch, Wein und Schnaps. Dann bringen Sie mir wenigstens einen Cognac«, quengelte der Mann im Schottenrock wie ein unleidliches Kind. Den Kilt trug er Tag und Nacht, und das schon seit fünf Tagen, denn so lange war er jetzt hier.

      Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und Maureen, die ihm den Puls fühlte, bemerkte, dass auch sein Körper schweißgebadet war. Er litt unter schweren Entzugssymptomen. Sie hatte ihm vorhin schon 300 mg Morphinsulfat verabreicht und mehr war nicht drin, so leid es ihr tat – und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar. Als sie anschließend seinen Blutdruck prüfte und feststellte, dass er deutlich erhöht war, ließ sie sich jedoch erweichen und eilte zum Schwesternzimmer.

      »190 zu 140«, sagte sie zu Doktor Sandler, der ihr aus dem Salon entgegenkam.

      »Dann geben Sie ihm meinethalben ein Amlodipin, aber sonst kriegt er nichts mehr. Warten Sie, ich hole es!« Der dunkelhaarige Psychiater mit dem markanten Gelehrtengesicht, der auf der Entwöhnungsstation als Assistenzarzt arbeitete, betrat gemeinsam mit Maureen das Schwesternzimmer und machte sich am Medikamentenschrank zu schaffen.

      Als er Maureen das Porzellanschälchen mit den Tabletten reichte, berührte er flüchtig ihre Hand. Sie erschauerte und spürte, wie sie rot wurde. Schon seit geraumer Zeit hegte sie Gefühle für den Psychiater, die sie jedoch geflissentlich zurückhielt – zum einen, weil Liebesbeziehungen zwischen den Angestellten des Sanatoriums strengstens verboten waren, zum anderen, da sie mutmaßte, dass sich der aufstrebende junge Arzt, der noch eine vielversprechende Karriere vor sich hatte, bestimmt nicht mit einer einfachen Krankenschwester abgeben würde. Obgleich »Joe«, wie sie ihn im Stillen zu nennen pflegte, nicht die Spur von Standesdünkel verströmte und sich ihr gegenüber stets freundlich und kollegial verhielt. Das traf allerdings auch auf die anderen Kollegen der Entgiftungsstation zu. Lediglich der Anstaltsleiter, Professor Sutton, ein Nachkomme des Gründers und Multimillionärs Thomas Holloway, strahlte die Arroganz der britischen Oberschicht aus.

      Die pfiffige Maureen, die aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte ihre Schäfchen gut im Griff und war bei Patienten und Pflegepersonal gleichermaßen beliebt. Auch von den Anstaltsärzten wurde die Schwester, die selbst in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte, wegen ihres angenehmen Wesens geschätzt. Obgleich sie noch jung war, verfügte sie schon über eine erstaunliche Reife und Charakterstärke – für die sie einen hohen Preis bezahlt hatte. Als Jugendliche war sie in schlechte Kreise geraten und erheblich ins Straucheln gekommen. Doch die Hilfe ihrer Eltern und ihr eigener unbändiger Lebenswille hatten ihr aus der Krise herausgeholfen. Sie hatte im London Hospital eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, die sie mit Bravour abgeschlossen hatte, und war danach ins Holloway-Sanatorium gewechselt, wo sie in der Pflege seelisch kranker Menschen ihre große Berufung gefunden hatte.

      »Die andere Tablette ist kein Barbiturat, sondern lediglich ein Placebo«, riss die Stimme des Arztes Maureen aus ihrer Versonnenheit.

      »Gut so«, erwiderte sie zustimmend, »denn der eiserne Grundsatz der Suchtmedizin lautet ja: so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Und ihre Wirkung wird die Pille trotzdem nicht verfehlen.« Sie hatte es schon häufiger erlebt, dass eine harmlose Milchzuckerpastille bei Patienten die gleiche beruhigende Wirkung erzielen konnte wie ein Sedativ, das den ohnehin vom Drogen- und Alkoholabusus geschwächten Körper noch zusätzlich belastete.

      Doktor Sandler lächelte verschwörerisch. »Sie sagen es, meine Liebe – und halten Sie sich den alten Schwerenöter bloß auf Abstand!«

      »Das dürfte schwierig werden«, flachste Maureen grinsend. »Ich möchte ihn nämlich dazu überreden, endlich mal seinen Schottenrock abzulegen, eine Dusche zu nehmen und ein frisches Nachthemd anzuziehen, denn das hat er bitter nötig«, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu und nahm ein weißes Krankenhemd aus dem Wäscheregal des Schwesternzimmers. »Residiert in einer Luxus-Suite und hat noch nicht mal einen anständigen Pyjama dabei«, mokierte sie sich kopfschüttelnd, während sie über den chinesischen Seidenläufer im Flur lief.

      Sie goss dem Patienten etwas Wasser in ein Glas und bat ihn, die Blutdrucktablette zu nehmen. Dann platzierte sie das Nachthemd auf der Lehne der Ottomane und fügte hinzu, dass Sir Alfred völlig verschwitzt sei und daher ein Bad oder eine Dusche ratsam wäre.

      »Danach ziehen Sie sich ein frisches Nachthemd über, legen sich ins Bett, nehmen das Barbiturat und schlafen wie ein Baby!« Sie schenkte Sir Alfred, der ohnehin von ihr entzückt war und sie immer seine »Feen-Königin« nannte, ein strahlendes Lächeln.

      »Das mach ich aber nur, wenn Sie mich einseifen«, säuselte er anzüglich.

      Maureen musterte ihn resolut. »Das schaffen Sie schon alleine, Sir Alfred! Ich lass Ihnen aber gerne Wasser in die Wanne und lege alles zurecht, was Sie brauchen.«

      Maureen, die sich auf einem Sessel am Kamin niedergelassen hatte, nachdem ihr Patient im Badezimmer verschwunden war, um ihm zur Seite zu stehen, falls er Hilfe brauchte, mochte ihren Augen nicht trauen, als Sir Alfred in einem goldverbrämten schwarzen Seidenkaftan, der mit einem goldenen Pentagramm und anderen okkulten Symbolen bestickt war, aus der Badezimmertür trat.

      »Sie sehen ja aus wie ein Zauberer«, entrang es sich ihr unwillkürlich.

      »Magier wäre treffender«, konterte Sir Alfred, der sich auch der dunklen Brille und Perücke entledigt hatte. Dadurch kam seine Kahlköpfigkeit zum Vorschein und die dunklen, glasigen Augen, die Maureen eindringlich fixierten. »Und – erkennen Sie mich?«

      Maureen zuckte nur mit den Achseln, was Sir Alfred zu enttäuschen schien.

      »Lesen Sie denn keine Zeitungen? Ich bin der gefährlichste Mann der Welt, der Zauberer der Verderbtheit.«

      Erst jetzt dämmerte es Maureen, wen sie vor sich hatte. »Sie sind Aleister Crowley, über den die Presse die ganze Zeit diese schlimmen Hetzartikel schreibt«, äußerte sie verblüfft. »Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Sie sehen so … so harmlos und gutartig aus, ganz anders als auf den Zeitungsfotos.«

      Ehe sie sich’s versah, ergriff der Okkultist ihre Hand und küsste sie. »Mein gutes Kind, Sie haben mich erkannt! Im Grunde meines Wesens bin ich harmlos und gutartig. Und dass Sie diese Zeitungsschmierereien als das erkennen, was sie sind, nämlich bösartiges Machwerk, zeigt mir einmal mehr, wie klug