Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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      Jetzt war es Bernd Schäfer, der an seinem Bett saß und die Wunde untersuchte. Es fiel ihm schwer, sich zusammenzunehmen, aber er wollte sich vor dem jungen Mann, der Ekelgefühle nicht zu kennen schien, keine Blöße geben. Dennoch kostete es ihn immer noch Überwindung, sich Sven Mohntals Bein auch nur anzusehen.

      Tapfer biß er die Zähne zusammen und beugte sich über die Wunde. Und dann vergaß er seinen Ekel. Statt dessen betrachtete er den Unterschenkel, der noch vor kurzem entsetzlich ausgesehen hatte, genauestens von allen Seiten. Schließlich schüttelte er den Kopf und murmelte: »Unglaublich.«

      »Was ist unglaublich?« fragte Sven Mohntal sofort. Er hatte bereits ungeduldig auf eine Äußerung des Assistenzarztes gewartet.

      »Wie gut das bereits aussieht«, antwortete Bernd nachdenklich. »Dr. Brown hat offenbar die richtige Idee gehabt. Die Wunde eitert nicht mehr, und ich glaube, sie heilt bereits ab.«

      »Wirklich?« fragte der Patient. »Heißt das, mein Bein ist gerettet?«

      »Ich möchte nicht voreilig sein«, meinte Bernd lächelnd und erhob sich. »Aber wenn sich das so weiter entwickelt, dann würde ich sagen: Ja, das Bein ist gerettet.«

      »Mann!« Sven Mohntal war völlig überwältigt. »Wenn Sie wüßten, was das für mich bedeutet, Herr Doktor.«

      »Nun werden Sie mir nur nicht übermütig, verstanden?« mahnte Bernd. »Sie haben noch einen langen Weg vor sich, Herr Mohntal.«

      »Egal«, kam die Antwort. »Von mir aus kann der Weg so lang sein, wie er will – die Hauptsache ist, ich kann ihn auf zwei Beinen gehen.«

      Bernd verabschiedete sich von seinem glückstrahlenden Patienten und machte sich auf die Suche nach Dr. Brown, um ihm die gute Nachricht zu überbringen. Zu seiner Enttäuschung war der Südafrikaner aber nirgends aufzutreiben, weil er gar keinen Dienst hatte.

      Dann würde er es ihm eben ein anderes Mal mitteilen, dachte Bernd und beschloß, etwas zu essen, um seinen revoltierenden Magen zu beruhigen. Diese Wirkung hatte ein Besuch bei Sven Mohntal in den letzten Tagen jedesmal auf ihn gehabt.

      *

      Heute würde sie also mit Tim Brown essen gehen – es war der Termin, der sie noch vor zwei Tagen schier verrückt gemacht hatte vor Glück. Und jetzt?

      Trübselig starrte Caroline sich selbst im Spiegel an. Sie fand, daß sie katastrophal aussah, weil sie sich so fühlte. In Wirklichkeit stimmte das keineswegs. Zwar wirkten ihre blauen Augen traurig, aber gerade das verlieh ihrem schönen Gesicht einen ganz eigenen Reiz – doch dafür hatte Caroline selbst keinen Blick. Sie fand sich blaß und unglücklich und gefiel sich nicht.

      Außerdem wußte sie nicht, wie sie Tim Brown klarmachen sollte, daß dies der erste und zugleich letzte Abend sein würde, den sie gemeinsam verbrachten. Sie konnte nicht mit einem Mann ausgehen, in den sie sich vielleicht sogar schon verliebt hatte, wenn sie damit rechnen mußte, schwer krank zu sein. Zwar hatte ihre Ärztin gesagt, möglicherweise könne der Tumor auch gutartig sein, aber das war eben nicht sicher.

      Am besten, ich sage ihm, wie es ist, dachte sie unglücklich. Er ist schließlich Arzt, und ich bin Krankenschwester. Wir haben beide ständig mit Krankheiten zu tun – was liegt da näher, als offen dar­über zu sprechen.

      Bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, klingelte es bereits. Er hatte darauf bestanden, sie abzuholen. Ihr Herz fing an wild zu klopfen, sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, nahm ihre Handtasche und eine Jacke und verließ die Wohnung. Ich hätte absagen sollen, dachte sie. Warum habe ich das nicht getan und mir diese Quälerei erspart?

      Dann stand er auch schon vor ihr, und seine dunklen Augen strahlten sie an. »Ich hatte ständig Angst, Sie würden absagen, Caroline«, sagte er leise. »Dabei habe ich mich so sehr darauf gefreut, Sie wiederzusehen.«

      Sie wollte schon sagen, daß auch sie sich sehr gefreut habe, aber in letzter Sekunde biß sie sich auf die Lippen und sagte nur: »Hallo, Tim. Wohin gehen wir?«

      Er warf ihr einen kurzen Blick zu, aber wenn er enttäuscht war über diese Begrüßung, dann ließ er es sich nicht anmerken. Leicht nahm er ihren Arm und sagte: »Lassen Sie sich überraschen. Mein Wagen steht da drüben, kommen Sie.«

      Sag es ihm jetzt, jetzt gleich! befahl sie sich. Warte nicht länger, später wird es nur schwerer. Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Es war so schön, daß er neben ihr ging und sie seine Hand ganz leicht an ihrem Ellbogen spürte. Ein verrücktes Glücksgefühl überkam sie, und sie brachte es nicht fertig, dieses Gefühl durch ein paar nüchterne Worte zu zerstören.

      *

      »Du bist vielleicht ein Krankenpfleger!« schimpfte Esther liebevoll und strich ihrem Zwillingsbruder über die stoppelige Wange.

      Verwirrt öffnete Adrian Winter die Augen und rappelte sich hoch. War er tatsächlich in Frau Senftlebens Sessel eingeschlafen? Nein, das war eigentlich nicht möglich, wahrscheinlich träumte er. Aber seine Schwester sprach weiter, und das bedeutete, daß er vielleicht doch wach war.

      »Ich bin nur mal vorbeigekommen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist«, fuhr Esther fort. »Zum Glück hattest du mir ja einen Schlüssel zu dieser Wohnung gegeben. Ich habe geklingelt, aber niemand hat geöffnet. Wie lange sitzt du denn schon hier und schläfst?«

      Adrian war noch immer benommen. »Keine Ahnung«, gestand er. »Wie spät ist es denn?«

      »Nach sieben«, antwortete sie, und jetzt fuhr er erschrocken auf und machte Anstalten, sich zu erheben.

      »Frau Senftleben!« sagte er. »Ich muß dringend…«

      Sie drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück in den Sessel. »Du mußt gar nichts, ich habe schon nach ihr gesehen. Sie hat noch ein bißchen Brühe getrunken, ein Stück Brot gegessen, mit mir etwas geredet, und dann ist sie wieder eingeschlafen. Sie hat das Schlimmste überstanden, jetzt ist sie erschöpft und könnte dauernd schlafen. Aber sie hat kaum noch Fieber und sieht auch schon besser aus.«

      »Es ist doch nicht möglich«, sagte Adrian sichtlich erschüttert, »daß ich drei Stunden in diesem Sessel geschlafen habe.«

      »Wenn du vorher auf die Uhr gesehen hast und es ungefähr vier war, dann würde ich sagen, es ist doch möglich«, versetzte seine Schwester trocken. »Was ist, hast du Hunger?«

      Er nickte. »Aber nicht auf Rinderbrühe«, gestand er.

      Esther lachte. »Ich bin an einem sehr guten China-Restaurant vorbeigekommen, die haben auch Essen zum Mitnehmen. Wie wär’s mit Frühlingsrollen, Gemüsesuppe und knuspriger Ente?«

      Mit einem Schlag war Adrian hellwach. »Das ist schon alles hier?« fragte er hungrig.

      »Und noch ganz heiß«, sagte er lächelnd. »Komm mit in die Küche.«

      Das ließ er sich nicht zweinmal sagen. Als sie sich an Frau Senftlebens Küchentisch gegenübersaßen und ihre Suppe aßen, stellte Adrian fest: »Nicht schlecht, aber überhaupt nicht mit Frau Senftlebens Suppen zu vergleichen.«

      »Das wäre ja auch noch schöner«, ertönte die Stimme seiner Nachbarin von der Tür her.

      Sie fuhren beide erschrocken auf und riefen wie aus einem Mund: »Frau Senftleben, Sie sollen doch…«

      »Ins Bad werde ich ja sicher gehen dürfen«, unterbrach Carola Senftleben sie sanft, aber entschieden. »Keine Sorge, danach verschwinde ich wieder in meinem Bett. Jedenfalls wird es Zeit, daß ich wieder gesund werde. Essen zum Mitnehmen in meiner Küche!« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging langsam zum Badezimmer.

      Esther und Adrian kicherten wie Kinder, die man bei etwas Verbotenem erwischt hat, und löffelten ihre Suppe weiter.

      *

      Tim Brown war verwirrt. Etwas war los mit Caroline, aber sie rückte nicht mit der Sprache heraus. Sie war völlig verändert, das war ihm schon bei der Begrüßung aufgefallen, aber sie wollte offenbar nicht darüber reden. Ihre Augen blickten