Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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so was«, brummte er. »Wieso rennt sie denn einfach raus? Kann wohl die Wahrheit nicht vertragen!«

      Adrian beschloß, daß er nun genug Rücksicht auf Verletzung und Schock des Patienten genommen hatte. »Was wissen Sie denn von der Wahrheit?« schnauzte er den völlig überraschten Mann an. »Pablo ist überhaupt nicht ihr Sohn! Er ist ein kleiner Argentinier, der bei ihr zu Gast ist. Er hat sich heute morgen heimlich das Fahrrad ihres Sohnes ›geliehen‹, und ist damit abgehauen. Sie hatte ihm übrigens strikt verboten, allein mit dem Fahrrad zu fahren und hat Todesängste ausgestanden, als sie festgestellt hatte, daß der Junge verschwunden ist. Eigentlich ist sie nur gekommen, um sich bei Ihnen in Pablos Namen zu entschuldigen. Obwohl sie natürlich weiß, daß dadurch nichts ungeschehen gemacht wird.« Nun war es Dr. Adrian Winter, der den anderen wütend anfunkelte, und unter seinem Blick wurde Paul Lüttringhaus sichtlich verlegen.

      »Das wußte ich ja nicht«, begann er, aber Adrian schnitt ihm sofort das Wort ab.

      »Das wußten Sie nicht, weil Sie sie gar nicht haben zu Wort kommen lassen, Herr Lüttringhaus! Sie haben sie abgekanzelt wie eine dumme Schülerin, ohne sich anzuhören, was sie Ihnen zu sagen hatte. Das war außerordentlich unhöflich von Ihnen. Und da wir schon einmal beim Kritisieren sind: Hören Sie endlich auf, die ganze Station zu terrorisieren! Jeder macht hier seine Arbeit, so gut er kann. Und es gibt keinen Grund, die Schwestern und Ärzte auf der Station zu behandeln, als wären sie schuldig an dem Unfall. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie haben einen schweren Schock erlitten und sind außerdem schwer verletzt worden. Ich verstehe, daß das für Sie ein harter Schlag ist – aber niemand von den Leuten, die sich hier um Sie kümmern, trägt daran irgendeine Schuld. Also besinnen Sie sich bitte auf Ihre besseren Seiten und benehmen Sie sich ab sofort wie ein normaler Mensch!«

      Für den in der Regel sehr gelassenen Adrian Winter war das eine ungewöhnlich deutliche Ansprache. Einen Moment herrschte Stille im Zimmer, dann fuhr der Arzt mit völlig ruhiger Stimme fort: »So, was also wollten Sie mich fragen?«

      Doch auf diese Frage bekam er keine Antwort. »Mannomann«, ließ sich Paul Lüttringhaus vernehmen. »Das war vielleicht ’ne Strafpredigt, Doktor. Besser hätte ich’s auch nicht gekonnt. Aber ich muß zugeben, daß Sie recht haben. Ein bißchen wenigstens.«

      »Da bin ich aber froh«, bemerkte Adrian trocken. Insgeheim fand er Paul Lüttringhaus sympathisch, auch wenn er eindeutig übertrieben hatte mit seiner Schreierei. Aber, dachte er, wer weiß, wie ich reagieren würde, wenn ich Angst hätte, vielleicht nie wieder laufen zu können? Und er ist ja noch ziemlich jung, kaum dreißig. Außerdem sieht er gut aus mit seinen dunklen Haaren und den dunklen Augen. Bis heute morgen hat ihm wahrscheinlich die ganze Welt offengestanden. Und jetzt muß er sich fragen, wie es mit ihm weitergeht. Das ist schon hart.

      »Und jetzt?« fragte Paul Lüttringhaus. »Wahrscheinlich wär’ ja eine Entschuldigung angebracht, obwohl ich immer noch stinkwütend auf den Jungen bin. Aber die Frau… Wie heißt sie überhaupt?«

      »Frau Baumann.«

      »Frau Baumann kann ja wohl wirklich nichts dafür.«

      »Nein, das kann sie sicher nicht«, bestätigte Adrian. »Sie werden sich etwas einfallen lassen müssen, Herr Lüttringhaus. Freiwillig kommt Frau Baumann bestimmt nicht wieder, um mit Ihnen zu reden.«

      »Da könnten Sie recht haben, Herr Doktor«, murmelte der Patient. Auf einmal hatte er überhaupt kein Bedürfnis mehr, über sein Bein zu sprechen und darüber, wie seine Chancen auf vollständige Genesung waren. Zwar versuchte er, mit dem Doktor darüber ein Gespräch zu führen, aber irgendwie kamen ihm immer zwei zutiefst erschrocken blickende braune Augen in einem sehr zarten Gesicht in den Sinn, die verhinderten, daß er sich richtig konzentrieren konnte.

      *

      Lisa war sehr blaß und in sich gekehrt, als sie Alexander abholte, der bei Pablo geblieben war. Das Gespräch mit Stefanie Wagner war zwar völlig ruhig und friedlich verlaufen, aber der Schock über die Vorwürfe, die Paul Lüttringhaus ihr gemacht hatte, saß tief.

      Die beiden Jungen sahen sie unsicher an, weil sie sich ihren Stimmungwechsel nicht erklären konnten. Sie war doch zuvor so freundlich und liebevoll gewesen. Aber jetzt wirkte sie fast unnahbar. Besonders Pablo bekam es erneut mit der Angst zu tun. Hatte Lisa vielleicht ihre Meinung geändert und wollte ihn jetzt doch nach Hause schicken? Er sah Alexander hilflos an, aber diesmal konnte der ihm auch nicht helfen. Er verstand ja selbst nicht, was auf einmal mit seiner Mutter los war.

      Wie hätte Lisa den Jungen auch erklären sollen, was sie bei Paul Lüttringhaus erlebt hatte? Der Mann hatte sie zutiefst getroffen mit seinen Worten, aber sie konnte ihn trotzdem gut verstehen. Zwar war er außerordentlich unhöflich gewesen, denn er hatte ja nicht einmal hören wollen, was sie zu sagen gehabt hätte. Aber war das angesichts seiner Situation nicht allzu verständlich?

      Und nach dem, was sie über seine Verletzungen wußte, gab es Gründe genug für ihn, verzweifelt zu sein. Ein Sportlehrer, der nicht wußte, ob er jemals wieder würde laufen können! Es schauderte sie, als sie daran dachte. Und das alles, weil Pablo sich heimlich Alexanders Rad »ausgeliehen« hatte. Nur gut, daß der Junge nicht überschauen konnte, was er angerichtet hatte. Er war gestraft genug, auch ohne lebenslange Schuldgefühle.

      Sie würde diesen Paul Lüttringhaus am nächsten Tag noch einmal aufsuchen, beschloß sie. Auch wenn sie nur wenig tun konnte, so empfand sie es doch als ihre Pflicht, ihm zu erklären, wie es zu dem Unglück gekommen war. Der Gedanke, daß er wegen des Unfalls einen tiefen Groll gegen Pablo hegte, war ihr unerträglich. Wenn er dem Jungen schon nicht verzeihen konnte, so wollte sie wenigstens versuchen, ihm dessen Handlungsweise verständlich zu machen. Als Lehrer mußte er doch eigentlich nachvollziehen können, was in Pablo vorgegangen war!

      Als sie diesen Entschluß gefaßt hatte, entspannten sich ihre Züge, und nun nahm sie auch wahr, wie ängstlich die beiden Jungen sie beobachteten. »Guckt nicht so«, sagte sie betont munter. »Ich hatte eben ein ziemlich gräßliches Erlebnis, deshalb habe ich so ein Gesicht gemacht. Es hat überhaupt nichts mit euch zu tun.«

      Die Erleichterung der Jungen war so groß, daß sie fast körperlich zu spüren war, und eine Welle von Liebe und Zärtlichkeit für beide erfaßte sie. Pablo hatte eine Dummheit gemacht, aber sie würde nicht zulassen, daß er dafür noch einmal bestraft wurde!

      Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Als sie sich aufrichten wollte, schlang er beide Arme um sie und drückte sie ganz fest. »Ich hab’ dich lieb, Lisa«, sagte er. »So lieb wie meine Mama, die schon im Himmel ist.«

      »Ich hab’ dich auch lieb, Pablo«, flüsterte sie. »Und Alexander auch. Wir sind sehr froh, daß du hier bist.«

      »Genau!« sagte Alexander laut. Die Stimmung wurde ihm allmählich zu rührselig, und das war seine Art, das zum Ausdruck zu bringen.

      »Bis morgen, Pablo«, sagte Lisa. »Schlaf schön. Und mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon – irgendwie.«

      Auf einmal war Pablo sehr müde. Die Aufregung des Tages forderte ihren Tribut, und er schlief ein, noch bevor Lisa und Alexander das Zimmer verlassen hatten.

      *

      Nach diesem denkwürdigen ersten Urlaubstag lag Dr. Adrian Winter abends auf seinem breiten Sofa und dachte über die merkwürdigen Wege des Schicksals nach. So viel war an diesem Tag passiert! Mehr als manchmal in einer Woche oder sogar in einem ganzen Monat.

      Stefanie Wagner fiel ihm wieder ein, und er fragte sich, ob er sie nicht am besten aus seinem Gedächtnis streichen sollte. Er wußte ja nun, daß sie gebunden war. Oder sollte er doch noch einmal bei ihr vorbeigehen und sich ganz unverbindlich nach ihrem Befinden erkundigen?

      Aber er hatte keinen Grund, wirklich nicht den geringsten, am nächsten Tag schon wieder in die Klinik zu gehen. Plötzlich lächelte er. Es würde ihm schon ein Grund einfallen. Phantasie hatte er schon als Kind reichlich gehabt. Sollten die anderen sich ruhig über ihn lustig machen, weil er in seinem Urlaub ständig am Arbeitsplatz auftauchte – das konnte ihm gleichgültig sein. Er wollte nur noch einmal in die schönen Augen von Frau Wagner