sind acht und neun Jahre alt, da haben Kinder längst einen starken Drang, sich unabhängig von den Eltern zu bewegen.«
»Kann er denn nicht ein bißchen länger hierbleiben?« fragte Paul und vergaß völlig, daß die Rede von »dem Bengel« war, über den er sich gestern noch ungeheuer aufgeregt hatte.
»Er muß ja wieder in die Schule«, antwortete sie. »Ich weiß noch nicht einmal, wie lange er hier in der Klinik bleiben muß. Er hat eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung. Da bleibt von seinen Ferien sowieso nicht mehr allzuviel übrig.«
»Dann laden Sie ihn einfach noch einmal ein«, schlug Paul vor.
Sie sah ihn erstaunt an. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, meinte sie nachdenklich. »Aber das könnte ich vielleicht machen.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie fortfuhr: »Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Herr Lüttringhaus. Gestern haben Sie auf Pablo geschimpft wie ein Rohrspatz, und heute machen Sie sich solche Gedanken seinetwegen.«
Er wurde verlegen. »Vergessen Sie gestern«, bat er. »Meinen Sie, das wäre möglich?«
»Mal sehen«, sagte sie ernsthaft, aber ihre braunen Augen lächelten ihn an.
Auf einmal war Paul Lüttringhaus der glücklichste Mensch der Welt. Er hatte ein kaputtes Bein und wußte nicht, was die Zukunft bringen würde – aber er war glücklich. Und er wunderte sich noch nicht einmal darüber, denn er wußte genau, daß dieses Gefühl mit zwei sanften braunen Augen zusammenhing, die ihn anlächelten.
*
»Das soll doch jetzt aber wirklich ein Witz sein, hoffe ich?« fragte Dr. Julia Martensen und sah ihren Kollegen Adrian Winter streng an. »Du hast Urlaub! Schon vergessen?«
»Keinesfalls«, antwortete Adrian würdevoll. »Ich sehe nur mal nach meinen Patienten, und dann bin ich auch schon wieder weg.«
»Nach deinen Patienten?« fragte Julia spitz. »Du hast im Augenblick keine Patienten, Adrian Winter, weil du nämlich gar nicht hier bist.«
»Du weißt genau, was ich meine, Julia«, sagte Adrian charmant, gab ihr einen Kuß auf die Wange und verließ die Notaufnahme. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Er war ein besessener Arzt, das wußte sie, aber in diesem Fall mußte vielleicht doch noch etwas anderes als reines medizinisches Engagement hinter seinem Interesse an den Patienten stecken. Aber was?
Adrian war unterdessen vor dem Zimmer angelangt, in dem Stefanie Wagner lag. Er klopfte an und trat im gleichen Augenblick ein. »Guten Tag«, sagte er freundlich. »Ich wollte doch noch einmal nach Ihnen sehen.«
Sie hatte ganz still dagelegen und aus dem Fenster gesehen. Nun wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Das ist aber nett«, erwiderte sie.
Er schluckte. Sie war wirklich eine schöne Frau mit ihren blonden Locken und diesen unglaublichen Augen. Was für ein Glück, daß er sie allein angetroffen hatte. Dies würde ja vermutlich das letzte Mal sein, daß er sie sah. Oder er kam morgen noch einmal wieder – Julia mußte das ja nicht unbedingt mitkriegen. Sonst machte sie nur wieder eine spitze Bemerkung.
»Geht’s Ihnen besser?« fragte er und hörte selbst, daß seine Stimme ein wenig heiser klang.
»Ja, viel besser. Vor allem, seit ich weiß, daß der Junge mit einer Gehirnerschütterung davongekommen ist. Ich habe ja gedacht…« Sie brach ab und fuhr dann fort: »Ich versuche, nicht mehr daran zu denken.«
»Ja, das ist wahrscheinlich auch besser. Wann werden Sie denn entlassen?«
»Morgen, denke ich.«
»Morgen schon!«
Sie sah ihn erstaunt an. Das hatte fast ein wenig bestürzt geklungen. Offenbar hatte er das auch bemerkt, denn nun wirkte er verlegen.
Schnell sprach sie weiter, um die Situation zu überspielen. »Wissen Sie, daß ich mich hier in der Klinik erstaunlich wohl fühle? Zuerst wollte ich ja gar nicht hierbleiben, und dann habe ich festgestellt, wie gut mir diese Ruhe tut. Ich muß nichts machen, kann soviel schlafen, wie ich will, und keiner hetzt mich. Außerdem sind alle furchtbar nett zu mir.«
»Ist Ihr Leben denn sonst so anstrengend?«
Sie nickte. »Ich bin Assistentin des Direktors im King’s Palace. Er ist ein toller Mann, aber außerordentlich anstrengend. Bisher hat es noch niemand lange bei ihm ausgehalten.«
»Aber Sie haben sich natürlich vorgenommen, daß Sie ihn kleinkriegen, oder?« fragte Adrian.
Sie lachte. »Genau. Woher wissen Sie das?«
»Intuition«, sagte er und lachte ebenfalls. »Ich bin sicher, daß Sie es schaffen. Sie schaffen wahrscheinlich alles, was Sie sich vornehmen.«
»So einen Eindruck haben Sie von mir? Wie schmeichelhaft!«
Stefanie wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, mit diesem jungen Arzt zu reden. Er machte einen ruhigen und souveränen Eindruck – so wie Oliver. Aber ganz anders als dieser war er dabei charmant und ein wenig jungenhaft. Und kein bißchen beschützend oder bevormundend. Obwohl er als Arzt vielleicht sogar ein Recht dazu hatte, einer Patientin gegenüber. Sie fand ihn äußerst anziehend, gestand sie sich ein. Und seine braunen Augen hatten einen Ausdruck, der sie verwirrte, weil sie ihn nicht zu deuten wußte.
Wieder klopfte es, und diesmal betrat Oliver Mahnert schwungvoll das Zimmer und marschierte ohne zu zögern auf das Bett zu. »Hallo, Schatz«, sagte er und beugte sich liebevoll über Stefanie.
Sie wich ein wenig zurück, aber das hinderte ihn nicht daran, ihr dennoch einen Kuß auf die Wange zu drücken.
»Oliver, das ist Dr. Winter«, stellte sie mit gepreßt klingender Stimme vor. »Herr Doktor, das ist Herr Mahnert.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Zwar war Adrian aufgefallen, daß sie nicht gesagt hatte: »Das ist mein Freund« oder »Das ist mein Verlobter« oder was sie sonst hätte sagen können – aber dieser Herr Mahnert hatte ganz unverkennbar »Hallo, Schatz« gesagt, und das war eindeutig.
»Ich gehe dann mal«, sagte er und sah ein letztes Mal in Stefanies Veilchenaugen. Er hatte den Eindruck, als versuche sie ihm stumm etwas zu sagen, aber vermutlich bildete er sich das nur ein. Er verließ das Zimmer und gleich darauf auch die Klinik.
Warum hatte er auch unbedingt an seinem zweiten Urlaubstag hierherkommen müssen? Jetzt wußte er es jedenfalls ganz sicher, daß es in Stefanie Wagners Leben einen Mann gab, der das Recht hatte, sie »Schatz« zu nennen. Er selbst hätte sich jedenfalls einen originelleren Kosenamen für sie einfallen lassen, dachte er grimmig.
Es war bedauerlich, daß Dr. Adrian Winter nicht hören konnte, was Stefanie Wagner in genau diesem Augenblick zu Oliver Mahnert sagte. Es hätte seine Laune sofort entscheidend gehoben. Sie sagte nämlich: »Wenn du noch ein einziges Mal Schatz zu mir sagst, Oliver, dann sehen wir uns nie wieder! Ich bin nicht dein Schatz, begreif das endlich!«
Aber, wie schon gesagt, das hörte Adrian Winter leider nicht. Und deshalb hatte er den ganzen Tag schlechte Laune.
Danach wurde Dr. Winter während seines Urlaubs nicht mehr in der Klinik gesehen. Als er nach einer Woche an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, war Stefanie Wagner längst entlassen, dem kleinen Pablo ging es bedeutend besser, und die Orthopäden waren mit der Heilung des Beins von Paul Lüttringhaus außerordentlich zufrieden. Die Chancen wurden von Tag zu Tag besser, daß er wieder ohne jegliche Beschwerden würde laufen können.
Adrian ging von Zeit zu Zeit bei ihm vorbei, und einmal sah er, wie Lisa Baumann das Zimmer gerade verließ. Das wunderte ihn, aber er dachte sich weiter nichts dabei. Die beiden hatten wegen des Unfalls ja eine ganze Menge zu klären. Auch Pablo besuchte er regelmäßig, und der Junge lernte in dieser Zeit viele deutsche Wörter. Als er schließlich entlassen wurde, war Adrian fast ein wenig traurig.
»Na?« fragte Julia Martensen, als sie sein Gesicht sah. »Weltschmerz oder Liebeskummer?«
»Wahrscheinlich beides«, erwiderte er und wunderte sich selbst am meisten über diese