Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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      »Ich war gar nicht da, Esther«, gestand er. Esther hatte Medizin studiert, wie er, aber sie war Kinderärztin geworden – für sie der Idealberuf schlechthin.

      »Du warst nicht da?« rief sie nun. »Aber wieso denn nicht?«

      »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er mit einem unterdrückten Seufzer.

      »Erzähl sie mir trotzdem«, forderte sie.

      Das tat er. Er bemühte sich, sich kurz zu fassen, aber bis er zum Ende gekommen war, verging doch fast eine Viertelstunde.

      »Das gibt’s doch alles gar nicht«, meinte Esther schließlich. »Du hast aber auch wirklich ein seltenes Talent, in solche Situationen zu geraten, großer Bruder.«

      Er lächelte über diese Anrede. Esther war fünf Minuten vor ihm auf die Welt gekommen, aber sie reichte ihm knapp bis zur Schulter und würde deshalb immer seine »kleine Schwester« bleiben.

      »Sag mal, und was ist das für eine Frau?« erkundigte sich Esther.

      »Die Gastmutter von dem kleinen Argentinier?« fragte Adrian. »Oh, sie ist eine sehr nette und…«

      »Doch nicht die!« rief Esther ungeduldig. »Stell dich nicht dumm, du hast mich ganz genau verstanden. Die mit dem Schock, meine ich.«

      »Was soll mit ihr sein?« fragte Adrian vorsichtig. Er war sich nicht bewußt, irgendwie angedeutet zu haben, daß ihm Stefanie Wagners Veilchenaugen nicht aus dem Kopf gingen.

      Esther schnaubte leise. Männer waren manchmal wie Kinder. Als ob sie nicht sofort den veränderten Klang seiner Stimme bemerkt hätte, als von ihr die Rede gewesen war. »Wie sieht sie aus?« fragte sie sachlich.

      »Sie hat wunderschöne veilchenfarbene Augen«, antwortete Adrian prompt. »Sie ist überhaupt sehr schön, Esther.« Er begriff plötzlich, daß er dabei war, sich zu verraten und zwang sich zu einem neutralen Ton. »Aber das steht ja hier nicht zur Debatte«, fuhr er fort. »Sie hatte einen schweren Schock, aber es geht ihr schon wieder besser, und sie wird morgen oder übermorgen entlassen.«

      Esther fragte nicht weiter, sie hatte genug gehört. Die junge Frau hatte offenbar großen Eindruck auf ihn gemacht, aber er wollte nicht darüber sprechen. Wahrscheinlich war sie gebunden, und die Sache war ohnehin aussichtslos. Schade, Adrian war schon so lange allein!

      Sie machte sich oft Sorgen um ihn, weil er so völlig in seinem Beruf aufging, daß für nichts anderes mehr Platz war. Aber sie war eindeutig die falsche Person, um ihm deshalb Vorhaltungen zu machen, schließlich ging es ihr ähnlich. Sie hatte eine kurze Ehe hinter sich, an die sie nicht gern zurückdachte. Und seitdem lebte sie allein, nur gebunden an ihren Beruf, den sie über alles liebte. Wir sind uns eben sehr ähnlich, dachte sie.

      »Dann gehst du also morgen ins Museum«, stellte sie zum Abschluß des Gesprächs fest.

      »Ganz bestimmt«, antwortete er und fragte sich erstaunt, warum er sich dabei wie ein Lügner fühlte. Schließlich konnte er ja auch ins Museum gehen!

      *

      Am nächsten Tag war Pauls Laune auf dem Tiefpunkt angelangt, aber niemand merkte etwas davon, denn er behielt es für sich. Auf der Station traute man dem Frieden nicht so recht, aber nach einer Weile glaubte selbst die mißtrauische Schwester Inge, daß der Patient Lüttringhaus an seinem ersten Tag wohl noch unter Schockeinwirkung gestanden haben mußte und sich nur deshalb wie ein Wilder aufgeführt hatte.

      Paul hatte ein langes Gespräch mit einem Orthopäden geführt, und das Ergebnis war so, wie er es erwartet hatte: alles war möglich. Er konnte wieder völlig gesund werden, das Bein konnte aber auch einen bleibenden Schaden behalten. Das hing von vielen Faktoren ab – unter anderem von der Mitarbeit des Patienten. Nun, daran sollte es nicht scheitern. Er hatte beschlossen, sich durch die unsichere Zukunft nicht deprimieren zu lassen. Seiner Wut hatte er bereits gestern Ausdruck verliehen – mehr als genug, wenn er ehrlich war –, nun war es an der Zeit, wieder vernünftig zu werden.

      Er hatte eine schwere Verletzung, und mit dieser mußte er sich auseinandersetzen. Da half es nichts, wütend auf den Jungen zu sein, der den Unfall verursacht hatte… Auf einmal sah er wieder die verschreckten braunen Augen von Frau Baumann vor sich, die vergeblich versuchte, ihm etwas zu sagen. Er schämte sich seines Verhaltens ihr gegenüber sehr. Dabei hatte sie ihm sofort gefallen, auch wenn er das gut verborgen hatte.

      Es klopfte, und er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Besuch erwartete er nicht, aber sonst klopfte hier eigentlich niemand an. »Herein!« rief er.

      Als Lisa Baumann zögernd das Zimmer betrat, verschlug es ihm im ersten Augenblick die Sprache. Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Als er sich wieder gefaßt hatte, rief er: »Sie?«

      Sie nickte. »Wenn Sie noch einmal so anfangen wie gestern, gehe ich gleich wieder«, kündigte sie an. Ihre braunen Augen waren nun wirklich sehr ernst auf ihn gerichtet.

      »Nein, keine Sorge«, sagte er schnell. »Ich kann es nur nicht glauben, daß Sie sich noch einmal hierher gewagt haben, wo ich doch gestern so ausgerastet bin.«

      »Sie haben sich unmöglich benommen«, stellte sie fest, »aber ich kann Sie verstehen. Ich weiß nicht, was ich an Ihrer Stelle getan hätte.«

      Sie überraschte ihn. Und sie sah zwar sehr zart aus, aber er erkannte nun, daß sie auch stark war. Das mußte sie sein, sonst wäre sie nicht noch einmal zu ihm gekommen.

      »Setzen Sie sich doch«, bat er. »Und sagen Sie mir alles, was Sie mir gestern schon sagen wollten. Da habe ich Sie ja nicht zu Wort kommen lassen.«

      Sie setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett und betrachtete ihn aufmerksam. Dabei legte sie den Kopf ein wenig schief. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das eine schwierige Aufgabe zu lösen hat, und er fand sie unglaublich anziehend. Paul Lüttringhaus, sagte er streng zu sich selbst, du hast ein kaputtes Bein und im Augenblick wirklich andere Sorgen. Du wirst dich doch nicht etwa in Frau Baumann…

      »Sie machen aber ein komisches Gesicht!« stellte Lisa fest. »Woran haben Sie denn gerade gedacht?«

      »Das muß leider mein Geheimnis bleiben«, murmelte Paul verlegen. »Nun erzählen Sie mir mal von dem kleinen Bengel, auf den ich übrigens immer noch stinkwütend bin.«

      Das tat Lisa. Sie berichtete so voller Zuneigung und Zärtlichkeit von Pablo und seinen Versuchen, sich die ihm völlig fremde deutsche Welt anzueignen, daß Paul Lüttringhaus davon ganz seltsam berührt war. Wie schön mußte es sein, dachte er, wenn sie in diesem zärtlichen Ton auch einmal von mir spräche. Er erschrak über diesen Gedanken und fragte sich, was eigentlich mit ihm los war.

      Sie sah ihn fragend an, und er wurde verlegen. »Was ist los?« murmelte er. Hoffentlich konnte sie keine Gedanken lesen.

      »Das wollte ich Sie eigentlich fragen«, antwortete Lisa. »Haben Sie mir denn überhaupt zugehört?«

      »Ich habe jedes Wort gehört«, versicherte er. »Und ich möchte Ihren Pablo gern kennenlernen.« Er bemerkte ihren Blick und fügte hastig hinzu: »Ich werde ihm schon nicht den Kopf abreißen, keine Angst! Ein bißchen schimpfen, das schon. Aber ich glaube, daß ich jetzt besser verstehen kann, was passiert ist. Nur sollte er so etwas trotzdem nie wieder tun.« Plötzlich erhellte ein breites Lächeln sein Gesicht. »Zufällig mache ich auch Verkehrsunterricht. Mir scheint, Pablo wäre der ideale Kandidat für ein paar Unterrichtsstunden – was halten Sie davon?«

      Ihr Gesicht wurde traurig, und einen Augenblick lang fürchtete er, etwas Falschen gesagt zu haben.

      »Bis Sie wieder gesund sind und Unterricht geben können«, sagte sie leise, »ist Pablo längst wieder in Argentinien. Ich darf gar nicht daran denken.«

      »Sie mögen ihn sehr gern, nicht wahr?« fragte er.

      Sie nickte. »Wie gern, das habe ich wohl jetzt erst richtig begriffen. Ich habe solche Angst um ihn gehabt gestern, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Sie dachte nach und fügte hinzu: »Natürlich hatte ich auch meinetwegen Angst – ich will