Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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hatte, so sehr ging ihr die Geschichte des Jungen zu Herzen. Sie schniefte ein wenig und versuchte zu lächeln. Mit rauher Stimme sagte sie: »Sie wird dich nicht vorzeitig nach Hause schicken, Pablo. Ganz bestimmt nicht.«

      »Glaubst du?« Die Stimme des Jungen klang zweifelnd, aber ein kleiner Hoffnungsschimmer zeigte sich auf seinem Gesicht.

      »Wir sind schließlich auch noch da«, sagte Adrian. »Glaubst du, wir würden das zulassen?«

      Da lächelte Pablo, und auf einmal strahlten seine Augen. Der ganze Junge strahlte und wirkte völlig verändert. In seinem Blick lag soviel Dankbarkeit, daß Julia sich abwenden mußte, weil sie die Tränen nun nicht mehr zurückhalten konnte. Hoffentlich, dachte sie, ist diese Lisa wirklich ein lieber Mensch und kommt tatsächlich nicht auf die Idee, den Jungen vorzeitig zurück nach Argentinien zu schicken.

      *

      Lisa Baumann saß direkt neben dem Telefon und wartete darauf, daß es klingelte. Doch bis jetzt hatte es das noch nicht getan. Das untätige Herumsitzen war nervenzermürbend, aber sie hätte sich auf nichts sonst konzentrieren können, also rührte sie sich nicht aus der unmittelbaren Nähe des Telefons weg. Ab und zu sprang sie auf und sah aus dem Fenster, noch immer getrieben von der verrückten Hoffnung, Pablo könne doch noch auftauchen, und die ganze schreckliche Geschichte würde sich innerhalb von Sekunden in Wohlgefallen auflösen. Aber das passierte nicht, und je mehr Zeit verstrich, desto geringer wurde diese Hoffnung.

      Alexanders Nervosität zeigte sich anders als Lisas. Er rannte wie aufgescheucht in der Wohnung herum und konnte keine Sekunde lang stillsitzen. Er lief von einem Fenster zum anderen und wieder zurück zur Tür. Und dann wieder zum Fenster.

      »Hör auf damit, Alexander!« rief sie schließlich. »Es macht mich verrückt, wenn du herumrennst wie ein Tiger im Käfig.«

      »Aber ich muß rennen!« erklärte er unglücklich. »Ich werde verrückt, wenn ich stillsitze wie du.«

      Sie nickte und sagte nichts mehr, obwohl sie sich anstrengen mußte, nicht zu schreien. Er war ein Kind, wie konnte sie von ihm erwarten, daß er sich beherrschte? Pablos Verschwinden war für ihn mindestens so schrecklich wie für sie, das durfte sie nicht vergessen.

      »Ruf die Polizei noch einmal an«, bat Alexander. »Die haben uns garantiert vergessen, weil sie doch immer so viel zu tun haben.«

      Lisa dachte an die aufmerksamen Augen des Polizisten und das Mitgefühl, das sie darin gesehen hatte. Sie glaubte eigentlich nicht, daß er vergessen würde, sie anzurufen, wenn er etwas wußte. Trotzdem sagte sie: »Ja, das kann sein. Aber ich möchte noch ein bißchen warten. Die werden doch sonst verrückt, wenn jeder, der ein Problem hat, ständig da anruft. Eine Viertelstunde warten wir noch, Alex.«

      »Warten ist gräßlich!« schimpfte ihr Sohn und rannte erneut durchs Zimmer, als könne er dadurch etwas bewirken. Was natürlich ein Irrtum war. Das einzige, was er schaffte, war, Lisa noch nervöser zu machen, als sie ohnehin schon war, aber das wußte er nicht. Er versuchte, sich auszumalen, daß er ganz allein Pablo fand. Dann wäre sofort alles wieder gut.

      Aber dann fiel sein Blick auf seine Mutter, und er wußte, daß Träumen in diesem Fall nicht half. Pablo war weg. Und sie hatten keine Ahnung, wo er war.

      *

      Klaus Hofstedt, der Polizeibeamte, der für Lisa und Alexander Baumann nach Pablo suchte, machte seufzend einen Haken auf dem Blatt, das vor ihm auf dem Tisch lag. Die Hälfte aller Berliner Krankenhäuser hatte er bereits angerufen, aber nirgends war ein kleiner blonder Junge mit Namen Pablo eingeliefert worden. Und seine Kollegen in den anderen Stadtteilen hatten einen solchen Jungen ebenfalls nicht gefunden.

      Noch eine Stunde, schätzte er, dann hatte er alle Anrufe erledigt. Wenn er den Jungen dann noch immer nicht gefunden hatte, wurde es schwierig. Er durfte gar nicht daran denken, was dem Kleinen alles zugestoßen sein konnte – die Polizei erlebte jeden Tag die schrecklichsten Geschichten. Nein, sagte er sich energisch, er wollte daran glauben, daß diese Sache ein gutes Ende fand. Schon wegen der zarten, so zerbrechlich wirkenden Frau Baumann. Die würde ja ihres Lebens nicht mehr froh werden, wenn der Junge nicht unversehrt zu ihr zurückkehrte.

      Er griff zum Hörer, um das nächste Krankenhaus anzurufen, aber in diesem Augenblick klingelte es, und er schrak zusammen, so wenig hatte er damit gerechnet, selbst einen Anruf zu erhalten. Er zwang sich zu einem amtlichen Ton, als er sich meldete.

      »Ich weiß gar nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin«, sagte eine sympathische Männerstimme zögernd.

      Klaus Hofstedt unterdrückte einen Seufzer. Er wollte die Sache mit diesem Jungen weiterverfolgen und sich dabei nur ungern durch irgendwelche Nachbarschaftsstreitigkeiten, entflogene Papageien oder verdächtig aussehende Personen, vor denen sich jemand fürchtete, stören lassen.

      »Worum handelt es sich denn?« fragte er sachlich und schaffte es sogar, jegliche Ungeduld aus seiner Stimme fernzuhalten.

      »Mein Name ist Adrian Winter, ich bin Arzt an der Kurfürsten-Klinik«, fuhr der Mann fort. »Ich rufe bei Ihnen an, weil Sie das nächstgelegene Polizeirevier sind. Hier in der Nähe hat es einen Unfall gegeben – mit mehreren Verletzten. Sagen Sie, haben Sie zufällig davon gehört, daß ein kleiner Junge vermißt wird? Ein blonder kleiner Junge?«

      »Ja, das haben wir in der Tat«, sagte Klaus Hofstedt, und er war mit einem Mal völlig konzentriert und hellwach. Müdigkeit und Resignation waren wie weggeblasen, als er sich nun daran machte, Dr. Winter von der Kurfürsten-Klinik eingehend zu befragen. Je länger das Gespräch dauerte, um so aufgeregter wurde er. Sein Dienst war oft anstrengend und frustrierend, Erfolgserlebnisse waren selten. Aber hier kündigte sich genau das glückliche Ende an, das er für Frau Baumann und ihren Sohn erhofft hatte. Schon nach wenigen Sätzen konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der kleine Junge, den sie aus Argentinien zu Besuch hatte, gefunden worden war.

      Als das Gespräch beendet war, wählte er sofort Lisa Baumanns Nummer. Er freute sich, derjenige zu sein, der ihr die gute Nachricht überbringen konnte.

      *

      Stefanie Wagner war auf die Innere Station verlegt worden. Man hatte ihr gesagt, man wolle sie noch zwei Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten – der Schock, den sie bei dem Unfall davongetragen hatte, war erheblich gewesen. Noch immer mußte sie krampfhaft ein Zittern unterdrücken, wenn sie das Bild des auf der Straße liegenden Jungen vor sich sah, auf den sie mit scheinbar unverminderter Geschwindigkeit zuraste.

      Mittlerweile wußten sie im Hotel sicherlich Bescheid. Sie durfte gar nicht daran denken, was dort alles schiefgehen würde, wenn sie nicht da war. Sie hatte eine Tagung vorzubereiten, die am Wochenende stattfinden sollte – fünfzig Teilnehmer aus mehreren Nationen.

      Ihr Chef, Andreas Wingensiefen, dem sie direkt unterstellt war, hatte die Vorbereitung völlig ihr überlassen. Mit seinem üblichen spöttischen Lächeln hatte er gesagt: »Sie wollen doch mal die Leitung dieses Hotels übernehmen, schöne Kollegin. Dann zeigen Sie mal, was Sie können!«

      Und sie hatte die Zähne zusammengebissen und sich in die Arbeit gestürzt. Natürlich wollte er sie testen, wollte sehen, wie belastbar sie war. Ihr Job als Assistentin des Direktors war auch ohne solche Zusatzaufgaben schon aufreibend genug. Sie wußte nur zu gut, daß die Angestellten des Hotels Wetten darauf abschlossen, wie lange sie es mit dem cholerischen Andreas Wingensiefen aushielt. Der hatte bisher noch alle geschafft…

      Mich nicht! dachte sie und sah aus dem Fenster. Auch wenn dieser Unfall eine Katastrophe war für das, was sie noch an Arbeit zu erledigen hatte. Ihre Kollegen würden seelenruhig alles liegenlassen in diesen zwei Tagen, und danach konnte sie sehen, wie sie fertig wurde. Vielleicht sollte sie doch noch einmal mit den Ärzten hier reden. Sie mußte arbeiten, sie hatte keine Zeit, hier herumzuliegen.

      Aber tief in ihrem Innern wußte sie, daß das nicht stimmte. Sie hätte gehen können – auf eigene Verantwortung. Niemand hätte versucht, sie daran zu hindern. Aber die Wahrheit, die sie selbst verblüffte, war, daß sie es genoß, hier in dieser Klinik im Bett zu liegen, sich versorgen zu lassen und gar nichts zu tun.

      Die