siehst völlig fertig aus!«
»Danke«, sagte er mit der gleichen müden Stimme. »Das bin ich auch.«
»Wie ist die Operation verlaufen?« fragte Julia besorgt.
»Soweit ganz gut, Bernd ist noch oben«, berichtete Adrian. »Aber ich hätte gern, daß sich ein Orthopäde das Bein ansieht – und zwar so bald wie möglich.«
»Heute nachmittag«, meinte Julia. »Ich kümmere mich darum, das verspreche ich dir. Und ich danke dir, daß du eingesprungen bist, Adrian. Jetzt darfst du mit etlicher Verspätung deinen wohlverdienten Urlaub antreten.«
Er nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Wie geht’s dem Jungen und der Frau?«
»Der Junge spricht nicht, das ist eigentlich das einzige, was uns ein bißchen Sorgen macht. Es haben sich auch noch keine Angehörigen bei uns gemeldet. Wir wissen also nicht, wie er heißt und wo er wohnt. Aber es geht ihm recht gut. Er hat keinen Schädelbruch, davor hatte ich ein bißchen Angst. Und auch sonst hat er viel Glück gehabt, daß nichts gebrochen ist.«
»Frau Wagner steht noch immer unter Schock«, berichtete Schwester Monika. »Ich habe das Gefühl, sie glaubt noch immer nicht, daß der Junge wirklich lebt. Ich kann sagen, was ich will, sie denkt, ich will sie beruhigen.«
»Ich würde gern kurz mal nach den beiden sehen«, meinte Adrian. »Was dagegen?«
Julia schüttelte den Kopf. »Sie sind beide noch hier«, antwortete sie und zeigte auf die entsprechenden Kabinen. »Aber danach machst du Urlaub, versprochen?«
Er nickte. »Muß ich ja wohl. Ihr wißt doch, daß ich mir sehr viel vorgenommen hatte für diese freien Tage.« Er drehte sich um und ging zu der Kabine, in der Stefanie Wagner lag.
Sie sahen ihm nach. Er ging ein bißchen gebeugt, die Anstrengung der letzten Stunden war seinem Körper anzusehen.
Schwester Monika zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt. »Ich glaube«, sagte sie, »heute war seinem Plan nach das Pergamon-Museum an der Reihe. Dafür hatte er mehrere Stunden vorgesehen.«
»Die wird er dann morgen irgendwie herausarbeiten müssen«, erwiderte Julia.
Sie wechselten einen kurzen Blick und fingen dann beide an zu lachen. Sie brachten dem jungen Arzt herzliche Zuneigung, gemischt mit Bewunderung für sein berufliches Engagement und sein außerordentliches Können entgegen. Aber diese Gefühle hinderten sie nicht daran, sich gelegentlich auf seine Kosten auch ein wenig zu amüsieren.
*
Stefanie Wagner fühlte sich schrecklich. Sie wußte mittlerweile, daß sie unter Schock stand, aber dieses Wissen half ihr nicht sehr. Ihr war kalt, doch zugleich fühlte sie sich fiebrig, und sie begann immer wieder unkontrolliert zu zittern. Das geschah vor allem dann, wenn die Bilder des durch die Luft fliegenden Jungen unvermittelt vor ihrem inneren Auge auftauchten. Er flog durch die Luft, und gleich darauf lag er regungslos auf der Straße – an einer Stelle, auf die sie mit großer Geschwindigkeit zuraste.
Und das war der Punkt, den sie einfach nicht verstand: Wieso raste der Wagen weiter, wo sie doch mit aller Kraft auf die Bremse trat? Es schien alles vergeblich zu sein, denn der Junge kam immer näher! Immer näher! So nahe, daß sie ihn schließlich erreichte…
Sie stöhnte, und plötzlich schob sich ein freundliches Männergesicht in ihr Gesichtsfeld. »Nicht«, sagte der Mann ruhig. »Versuchen Sie, nicht mehr daran zu denken. Es war nicht Ihre Schuld, und Sie haben den Jungen ja gar nicht überfahren.«
»Aber…«, sie versuchte zu sprechen, doch die Worte wollten nicht heraus. Ihr Mund war trocken, und sie konnte kaum schlucken.
Der freundliche Mann verschwand und kehrte gleich darauf mit einem Glas Wasser zurück. »Trinken Sie das«, sagte er. »Es wird Ihnen bald besser gehen.«
Sie richtete sich mit seiner Hilfe auf und trank, dann ließ sie sich erschöpft zurücksinken. »Danke«, sagte sie, »aber das glaube ich nicht.«
Er sagte nichts, sondern sah sie nur an. Sein Gesicht kam ihr jetzt, wo sie es genauer betrachtete, bekannt vor: dunkelblonde Haare, gerade Nase und kluge braune Augen, die sie aufmerksam ansahen. »Erinnern Sie sich an mich?« fragte der Mund, der zu diesem Gesicht gehörte.
»Vielleicht«, murmelte sie undeutlich.
Er setzte sich neben sie und fragte: »Und Sie wissen, was passiert ist?«
»Der Junge!« krächzte sie und schloß die Augen. Ihr Herz fing an, wie wild zu klopfen, und erneut saß sie im Auto und raste auf den reglosen kleinen Körper zu…
»Ich glaube, Sie wissen es nicht«, sagte der Mann an ihrem Bett leise. »Der Junge ist bei Rot über die Ampel gefahren und dann gestürzt, weil er nicht gesehen hat, daß ein Ast auf der Fahrbahn lag. Sie haben nichts falsch gemacht. Im Gegenteil. Es ist Ihnen sogar gelungen, das Auto rechtzeitig zum Halten zu bringen, was ein Wunder ist. Wahrscheinlich haben Sie ihm dadurch das Leben gerettet.«
Sie wandte vorsichtig den Kopf, um ihn anzusehen. »Woher wissen Sie das?« flüsterte sie.
»Er hat mich überholt, kurz vor der Ampel.« Seine Stimme war schön, ziemlich tief und weich. Es tat gut, ihm zuzuhören. Stefanie entspannte sich ein wenig. Sie versuchte, ruhig zu atmen und war froh, als er weitersprach. Es beruhigte sie, ihm zuzuhören.
»Ich habe mich noch darüber aufgeregt, daß er keinen Helm trug und wollte ihn deshalb eigentlich zur Rede stellen, aber er ist mir vor der Ampel einfach entwischt! Bei Rot weitergefahren, und dann hat er in der Eile den Stock nicht gesehen, der dort lag. Den Rest wissen Sie ja. Ich habe schon am Unfallort versucht, Ihnen zu sagen, daß der Junge lebt. Aber Sie wollten es wohl nicht glauben. Glauben Sie es mir jetzt?«
Sie nickte und schloß müde die Augen.
Adrian sprach weiter. »Er hat eine Gehirnerschütterung und ein paar Prellungen, sonst ist ihm nichts weiter passiert. Das ist das nächste Wunder. Vermutlich hat sein Schutzengel ganz besonders gut aufgepaßt.« Er schwieg und sagte dann mit einem Lächeln in der Stimme: »Allerdings muß er vorher geschlafen haben, sonst hätte er den Jungen bei Rot nicht weiterfahren lassen.«
Sie öffnete die Augen und versuchte, ebenfalls zu lächeln. Es gelang ihr nicht ganz, aber es war immerhin ein Anfang.
Adrian hätte fast nach ihrer Hand gegriffen, konnte sich aber im letzten Augenblick daran hindern. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau, selbst jetzt, wo sie blaß und elend aussah. Und sie hatte diese unglaublichen Augen, in denen man wahrscheinlich ertrinken würde, wenn man zu lange hineinblickte. Er ertappte sich dabei, daß er sich vorzustellen versuchte, was sie wohl für ein Mensch war. War sie temperamentvoll? Lustig? Eher ernst? War sie verheiratet und hatte Kinder?
Das geht dich gar nichts an, Adrian Winter, dachte er streng und sagte dann behutsam: »Ich bin übrigens Dr. Adrian Winter.« Er wartete vergeblich darauf, daß sie reagierte und fuhr schließlich fort: »Bitte sagen Sie mir, ob wir jemanden benachrichtigen sollen, daß Sie bei uns sind. Ihre Angehörigen machen sich sonst sicher Sorge.« Er gestand sich nicht einmal selbst ein, daß es ihm in diesem Augenblick in erster Linie nicht um ihre Angehörigen ging. Er wollte nur wissen, ob sie vielleicht…
Sie machte ein erschrockenes Gesicht. »Das habe ich völlig vergessen«, sagte sie leise und bat dann: »Bitte benachrichtigen Sie das King’s Palace. Dort arbeite ich. Die werden sich schon wundern, wo ich bleibe.«
»Und sonst?« Er wunderte sich selbst über seine Hartnäckigkeit. »Ihre Eltern? Ihren Mann?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur das Hotel bitte.«
Jetzt war er genauso klug wie zuvor. Vielleicht wollte sie ja ihre Eltern und ihren Mann nur nicht beunruhigen… Ärgerlich biß er sich auf die Lippen. Geschieht dir ganz recht, dachte er und sagte laut: »Ich sorge gleich dafür, daß das Hotel benachrichtigt wird.«
»Danke«, sagte sie.
Er verließ den Raum und ließ sie allein. Sie fühlte sich ruhiger als zuvor. Vielleicht