und er war der lauteste Patient, der jemals dort gelegen hatte. Er schimpfte und wütete vor sich hin, seit er wieder bei Bewußtsein war. Und er hielt die Ärzte und Schwestern auf Trab, weil sie sich Sorgen um seinen Kreislauf machten.
»Dieser verdammte Bengel!« schimpfte er, als wieder einmal ein Arzt nach ihm sah. »Der soll mir bloß unter die Augen kommen und seine Eltern noch dazu, dann können sie aber allesamt was erleben. Fährt völlig allein, ohne Helm und dann auch noch bei Rot über die Ampel. Und ich ruiniere mir dabei meine Gesundheit…«
»Hören Sie auf zu schimpfen, Herr Lüttringhaus, das ist nicht gut für Sie. Sie brauchen Ruhe«, sagte der junge Arzt, der noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit Patienten hatte und sich deshalb ein wenig fürchtete vor diesem Mann mit den blitzenden Augen und der lauten Stimme. Niemand hatte ihn während des Studiums auf randalierende Frischoperierte vorbereitet. So etwas war nicht vorgesehen. Patienten, die gerade eine schwere Operation hinter sich gebracht hatten, lagen still und blaß im Bett und waren froh, daß sie alles überstanden hatten – so hatte er es gelernt. Und so hatte er es auch erwartet. Aber bei Paul Lütthaus war alles anders.
Nach der gutgemeinten Bemerkung des jungen Arztes ging der Patient nun mit ungestümer Energie auf diesen los. »Reden Sie doch nicht so ein dummes Zeug!« rief er empört. »Ich muß meine Wut herauslassen, sonst ersticke ich daran, das können Sie mir glauben. Wozu soll es denn gut sein, daß ich hier herumliege und alles in mich hineinfresse? Mein Bein schmerzt höllisch, ich bin wütend und verzweifelt. Was erwarten Sie denn eigentlich von mir?«
Als er keine Antwort bekam, fragte er mißtrauisch: »Oder wollen Sie etwa sagen, daß ich im Unrecht bin?«
Der junge Mediziner wünschte sich, daß ihm in dieser verzwickten Situation einer der erfahrenen Kollegen zur Seite gestanden hätte, aber es war niemand da, der ihm hätte helfen können. »Nein, natürlich nicht, Herr Lüttringhaus«, begann er verzweifelt von neuem. »Aber es ist trotzdem so…«
Paul Lüttringhaus ließ ihn nicht ausreden. »Sehen Sie! Ich bin im Recht, also kann ich mich auch aufregen. Das erleichtert mich.« Plötzlich unterbrach er sich und betrachtete den blassen jungen Mann, der an seinem Bett stand, aufmerksam. Mit völlig veränderter Stimme fragte er, auf einmal ganz ruhig: »Du liebe Zeit, Sie beziehen das doch nicht etwa auf sich?«
Der junge Mann wurde rot. »Nein, natürlich nicht, aber…«
»Aber es wäre Ihnen trotzdem lieb, wenn ich mich endlich beruhigen würde«, stellte Paul Lüttringhaus, noch immer ganz gelassen, fest.
»Ja«, gab der junge Arzt erleichtert zu. Er hatte es geschafft, der Patient tobte nicht mehr. Das war ein erster Erfolg, auf den er stolz sein konnte. Doch er mußte schon im nächsten Augenblick einsehen, daß er sich zu früh gefreut hatte.
»Versteh’ ich, aber den Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun!« Paul Lüttringhaus grinste den Arzt entschuldigend an und fing ohne weitere Vorwarnung wieder an zu toben. »Schaffen Sie mir gefälligst die Eltern von diesem Bengel hierher«, schrie er, »damit ich sie ungespitzt in den Boden rammen kann. Die haben mein Leben ruiniert, wissen Sie das überhaupt? Ich bin nämlich Sportlehrer. Haben Sie schon einmal einen Sportlehrer mit einem kaputten Bein gesehen?«
Der junge Mediziner floh. Diesem Patienten war er nicht gewachsen. Sicher, der Mann war unverschuldet in einen Unfall verwickelt und dabei schwer verletzt worden. Verständlich, daß er völlig außer sich war. Aber trotzdem. Es war nicht zum Aushalten mit Paul Lüttringhaus!
*
»Ich träume!« sagte Julia Martensen, als ihr Kollege Adrian Winter plötzlich erneut vor ihr stand.
Er beugte sich vor und kniff sie leicht in den Arm.
»Aua!« sagte sie. »Ich träume also nicht, und du bist wirklich schon wieder hier. Adrian, was ist denn jetzt schon wieder passiert?«
»Nichts«, antwortete er.
Sie sah ihn prüfend an. »Ich muß dich enttäuschen. Dieses Mal wird es dir nicht gelingen, den Retter in der Not zu spielen. Wir haben alles bestens im Griff – und operiert werden muß im Augenblick auch niemand.«
»Spricht der Junge mittlerweile?«
»Nein, tut er nicht. Aber er ist bei Bewußtsein und verfolgt das Geschehen um ihn herum aufmerksam. In zwei Stunden wird er auf die Kinderstation verlegt.«
»Also habt ihr doch nicht alles im Griff«, stellte Adrian fest.
Julia legte den Kopf schief und sah ihn mit einem fast mütterlichen Blick an. »Was ist los, Adrian? Warum schaffst du es nicht, dich wenigstens für kurze Zeit von deiner Arbeit zu lösen? Das ist nicht gesund, weißt du das? Jeder Mensch muß ab und zu abschalten.«
»Das weiß ich«, erwiderte er ernsthaft. »Aber was soll ich machen, wenn mir dieser Junge nicht aus dem Kopf geht?« Er verschwieg wohlweislich, daß ihm auch die Veilchenaugen von Stefanie Wagner nicht aus dem Kopf gingen, aber das gehörte, fand er, überhaupt nicht hierher.
»Ach, und weiter?« fragte Julia. »Er geht dir nicht aus dem Kopf, und deshalb hast du beschlossen, deinen Urlaub jetzt doch in der Klinik zu verbringen?«
»Nein, ich hatte eine Idee, weshalb er vielleicht nicht spricht – ich glaube, es ist gar nichts Medizinisches, Julia.«
»Er hat einen Schock«, sagte sie ruhig. »Sobald er sich beruhigt und keine Angst mehr hat, wird er sprechen, glaub’ mir das. Außerdem haben wir eine Notiz an alle Polizeidienststellen herausgegeben – es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis seine Familie hier aufkreuzt.«
»Ich glaube, er kann kein Deutsch«, sagte Adrian.
Sie sah so verblüfft aus, daß er lächeln mußte. »Er ist so blond und sieht so typisch deutsch aus, daß wir gar nicht auf die Idee gekommen sind, er könnte auch ein Ausländer sein, nicht? Ich finde, wir sollten zumindest mal probieren, in einer anderen Sprache mit ihm zu sprechen, findest du nicht?«
»Aber er ist mit dem Fahrrad gefahren – das heißt, er kennt sich hier aus und wohnt auch hier, glaubst du nicht? Und wenn er hier wohnt…«
»… dann heißt das noch lange nicht, daß er auch deutsch spricht«, stellte Adrian fest.
Sie mußte ihm recht geben. »Wirklich komisch, daß wir nicht sofort auf die Idee gekommen sind. Aber was glaubst du denn, was er ist? Türke bestimmt nicht, ich glaube, blonde Türken gibt’s nicht. Italiener auch eher nicht.«
»Franzose vielleicht, Engländer – ach, ich weiß es auch nicht. Es kommt auf einen Versuch an. Vielleicht irre ich mich ja auch.«
»Vielleicht«, sagte Julia. »Aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.«
»Kommst du mit?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Ich bin schließlich im Dienst – im Gegensatz zu dir, mein Freund.«
*
Pablo versuchte nachzudenken, aber das fiel ihm schwer, weil sein Kopf ihm so weh tat. Außerdem hatte er Angst. Wenn nur Lisa und Alexander hiergewesen wären, dann hätte er sich nicht so schrecklich allein fühlen müssen. Aber sie wußten wohl gar nicht, wo er war. Er wußte es ja selbst nicht. Es mußte ein Krankenhaus sein, jedenfalls glaubte er das.
Aber es gab hier niemanden, mit dem er hätte reden können. Es kam zwar dauernd jemand und sagte etwas, aber er verstand nichts. Oder besser: fast nichts. Manche Wörter kamen ihm bekannt vor, er hatte sie auch schon von Alexander gehört. Aber Alexander hatte er immer verstanden, und hier verstand er niemanden.
Er wußte nicht genau, was passiert war, und das machte ihm noch zusätzlich Angst. Er hatte sich Alexanders Fahrrad ausgeborgt, daran erinnerte er sich genau. Das war nicht ganz in Ordnung gewesen, denn Lisa wollte nicht, daß er mit dem Fahrrad fuhr, das wußte Pablo. Sie hatte immer Angst um ihn. Wie also hätte er ihr erklären sollen, daß es sein sehnlichster Wunsch war, ein einziges Mal nur auf diesem Fahrrad zu fahren. Genauso schnell durch die Straßen zu flitzen wie die anderen Jungs und Mädchen es taten.
Nein,