Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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würde man dort landen.

      Lisas Herzschlag setzte wieder ein und war nun auf einmal rasend schnell. Wenn Pablo nun wirklich auf die Straße gefahren war…

      In diesem Augenblick kam ihr Sohn aus dem Haus – offenbar war er nun doch beunruhigt, wo Pablo so lange blieb. Lisa rannte zu ihm. »José hat gesagt, er hat ihn mit deinem Rad wegfahren sehen«, rief sie schon, bevor sie ihn erreicht hatte.

      Alexander machte ein böses Gesicht. Er konnte es nicht leiden, wenn sich jemand an seinen Sachen vergriff, ohne ihn zu fragen – nicht einmal, wenn es sich bei diesem Jemand um Pablo handelte. Dann sah er das Gesicht seiner Mutter und begriff, daß sie Angst hatte.

      »Ich seh’ mal nach, ob das Rad weg ist«, sagte er und rannte zurück.

      Lisa folgte ihm. Vielleicht hatte sich José ja geirrt, sagte sie sich. Vielleicht hatte er einen anderen Jungen gesehen und ihn mit Pablo verwechselt. Wenn man ihn nur von hinten sah, konnte das leicht passieren.

      Aber als sie an der Kellertreppe stand und Alexanders Gesicht sah, wußte sie, daß ihre Hoffnung sie getrogen hatte.

      »Es ist weg«, sagte ihr Sohn und sah sie unsicher an. »Aber er ist bestimmt nicht weit gefahren – nur einmal um den Block.«

      »José meint, er wollte zum Ku’damm«, entgegnete Lisa mit erstickter Stimme.

      »Aber doch nicht allein!« widersprach Alexander voller Überzeugung.

      »Ich weiß, daß er nochmal dahin wollte – wir sind ja erst einmal dagewesen. Aber er wollte mit uns dahin, Mami, ganz bestimmt, und nicht allein!«

      »Geh nach oben«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich nehme mein Rad und fahre die umliegenden Straßen ab.«

      »Ich will mit!«

      »Erstens ist dein Rad nicht da, und zweitens möchte ich, daß jemand zu Hause ist, falls Pablo kommt. Verstehst du das?«

      Er nickte, dagegen ließ sich nur schwer etwas einwenden. Mit hängendem Kopf schlich er die Treppen hinauf, während Lisa sich eilig auf den Weg machte.

      Ich muß ihn finden, dachte sie. Er ist doch noch so klein, und er kann sich ja hier überhaupt nicht verständigen. Und außerdem bin ich für ihn verantwortlich. Wenn ihm nur nichts passiert ist!

      *

      Im Operationssaal herrschte angespannte Stille. Keine Spur von Scherzen oder lockerer Unterhaltung, wie es bei Routineoperationen üblich war. Aber dies war keine Routineoperation. Hier ging es um das schwerverletzte Bein eines jungen Mannes – und es ging darum, ob dieser junge Mann nach dem Eingriff noch eine Chance auf ein halbwegs normales Leben haben würde oder nicht.

      Dr. Adrian Winter arbeitete seit Stunden voller Konzentration daran, gerissene Bänder zu nähen und die gebrochenen Knochen zu richten. Dr. Bernd Schäfer assistierte ihm. Adrian dachte nicht mehr daran, daß diese Operation eigentlich von einem Orthopäden hätte durchgeführt werden müssen. Er war ein hervorragender Chirurg, und im Grunde fand er solche ungewöhnlichen Aufgaben höchst interessant.

      Zum Glück war die Kniescheibe nicht zertrümmert, aber der Patient würde sich trotzdem auf eine lange Genesungszeit einrichten müssen. »Bei dem Schienbein bin ich ganz optimistisch«, murmelte Adrian, »aber das Knie – also, ich weiß nicht. Ich möchte nicht gern, daß der Patient mit einem steifen Bein leben mußt.«

      Bernd Schäfer schwieg. Paul Lüttringhaus würde nicht mit einem steifen Bein leben müssen, davon war er bereits überzeugt. Was Adrian in der vergangenen Stunde hier im OP gemacht hatte, grenzte für ihn an Zauberei. Niemals würde er ein so guter Chirurg werden wie sein nur unwesentlich älterer Kollege, das wußte er. Normalerweise litt er nicht darunter, daß er vermutlich in seinem Beruf nur guter Durchschnitt sein würde, aber jetzt wünschte er sich doch, über solche Fähigkeiten zu verfügen wie Adrian. Wie sicher er war – und wie vorsichtig zugleich! Selbst in schwierigen Situationen verlor er die Übersicht nicht, sondern blieb ruhig und gelassen. Bernd Schäfers Bewunderung für Adrian Winter war grenzenlos.

      »Was meinst du?« fragte Adrian. »Werden uns die Kollegen von der Orthopädie die Köpfe abreißen, wenn sie das hier sehen?«

      »Quatsch«, murmelte Bernd. »Die werden dich zu deiner großartigen Arbeit beglückwünschen.«

      Adrian warf ihm einen scharfen Blick zu. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Bernd! Ohne dich wäre ich verloren gewesen bei dieser Operation. Und wenn noch mal zwei Jahre vergangen sind, dann machst du solche Sachen selbst.«

      Bernd errötete vor Freude über die Anerkennung, die aus diesen Worten sprach – auch wenn er selbst fand, daß er sie nicht verdient hatte. Aber so war Adrian eben! Andere an seiner Stelle hätten sich etwas eingebildet auf ihre Fähigkeiten, Adrian Winter dagegen dachte zuerst daran, sich bei den Kollegen für die Unterstützung zu bedanken.

      »Willst du den Rest übernehmen?« fragte Adrian.

      Bernd nickte. »Gern. Weißt du überhaupt, wie froh ich bin, daß du aufgetaucht bist? Julia hat mich vorher so angesehen, als wolle sie sagen, daß ich den Mann operieren soll!« Bernd schauderte allein bei der Erinnerung daran.

      Adrian nickte. »Ich bin einmal in einer ähnlichen Situation gewesen – das war, als ich noch gar keine OP-Erfahrung hatte. Die anderen haben so getan, als müßte ich nun endlich ins kalte Wasser springen. Als ich begriffen habe, daß sie mich nur aufziehen wollten, hat nicht viel gefehlt, und ich wäre in Tränen ausgebrochen vor Erleichterung!«

      Mit freundlichem Lächeln verabschiedete sich Adrian von der Anästhesistin und der OP-Schwester und ging hinaus.

      Draußen streckte er die müden und verspannten Glieder. Ein merkwürdiger erster Urlaubstag, dachte er. Nun, er würde noch einmal nach dem Kind und der jungen Frau mit den Veilchenaugen sehen – und dann konnte er sich überlegen, was er mit dem Rest dieses Tages anfangen wollte.

      *

      Dr. Julia Martensen war mit dem Jungen selbst beim Röntgen gewesen, und zum Glück hatte sich herausgestellt, daß er keinen Schädelbruch davongetragen hatte. Er hatte eine Gehirnerschütterung und, wie Adrian Winter schon am Unfallort festgestellt hatte, einige Prellungen und Hautabschürfungen – sonst aber war ihm wie durch ein Wunder nichts passiert.

      Etwas aber berunruhigte Julia: Der Junge sprach nicht. Was immer sie auch bisher versucht hatte, er sagte kein einziges Wort. Seine dunklen Augen sahen sie aufmerksam an, aber sie hatte das Gefühl, daß er sie gar nicht hörte.

      War es möglich, daß eine Verletzung übersehen worden war? Nein, beantwortete sie sich ihre Frage gleich selbst. Das war nicht möglich. Er war gründlich untersucht und geröntgt worden, und nirgends hatte sich ein Hinweis darauf ergeben, warum der Junge nicht sprach. Es mußte der Schock sein, der noch immer nachwirkte. Hoffentlich hat er ihn bald überwunden, dachte sie.

      Schwester Monika kam aus einer der Behandlungskabinen und fragte: »Und? Spricht er jetzt?«

      Julia schüttelte den Kopf. »Kein Wort, leider.«

      »Laß ihn doch einfach ein bißchen schlafen, er sieht sehr müde und ziemlich mitgenommen aus. Danach redet er bestimmt ganz von selbst. Vielleicht hat er auch Angst. Wieso ist er überhaupt noch hier?«

      »Auf der Kinderstation war kein Platz«, antwortete Julia. »Sie haben gefragt, ob wir ihn noch ein paar Stunden hierbehalten können.«

      »Der arme kleine Kerl.«

      »Wie geht’s Frau Wagner jetzt?« erkundigte sich Julia.

      »Sie ist ruhiger geworden, aber du hast recht, wir sollten sie auf eine Station verlegen. Sie hat einen sehr schweren Schock.«

      Julia nickte.

      »Wenn sie geglaubt hat, den Jungen überfahren zu haben, dann ist das nur zu verständlich. Frag doch mal in der Inneren nach, ob die sie für einige Tage aufnehmen können. Spricht sie?«

      »Kaum. Ich konnte sie noch nicht einmal fragen, ob ich jemanden benachrichtigen