was passiert ist?« fragte er.
Alexander warf seiner Mutter einen scheuen Blick zu und nickte dann. Er hatte zwar ein bißchen Angst, aber er mußte seiner Mutter helfen, soviel hatte er verstanden. »Pablo ist bei uns zu Besuch«, erklärte er. »Er ist aus Argentinien und spricht kein Deutsch. Nur mit mir und den anderen Jungs kann er reden – so eine Mischung, verstehen Sie? Spanisch und Deutsch gemischt und…« Er suchte nach dem richtigen Wort.
»Zeichensprache?« fragte der Polizist.
»Ja, genau«, antwortete Alexander erleichtert. »Aber das geht nur unter uns. Mit Fremden geht das nicht.«
»Wenn Pablo allein unterwegs ist, kann er sich also nicht verständigen?«
»Nee, kann er nicht. Wir haben erst alle zusammen Fußball gespielt, dann habe ich mit Peter Elfmeterschießen geübt. Als ich damit aufgehört hab’, war Pablo weg. Ich dachte, er ist nach Hause gegangen.« Alexander schwieg, mehr gab es eigentlich nicht zu erzählen, fand er. Dieser Ansicht war der Polizist jedoch offenbar nicht.
»Aber zu Hause war er nicht?« fragte er, um dem Jungen zu helfen. Allmählich verstand er, worum es ging. Die Frau war nicht zu beneiden. Ein Kind, für das sie die Verantwortung übernommen hatte, war verschwunden. Wieder seufzte er, diesmal aber aus Mitgefühl.
Alexander schüttelte den Kopf. »Einer von den anderen hat gesehen, daß er mit meinem Fahrrad weggefahren ist«, sagte er. »Und jetzt hat meine Mutter Angst, daß ihm etwas passiert ist. Weil er sich doch hier nicht auskennt. Und weil er kein Deutsch spricht und so…« Seine Stimme erstarb.
Der Beamte begann laut nachzudenken. »Für eine Vermißtenanzeige ist es zu früh«, meinte er. »Am besten wird es sein, wenn ich mich zunächst mal bei meinen Kollegen umhöre, ob sie etwas wissen. Danach müßten wir in den Krankenhäusern nachfragen, ob ein kleiner Junge auf einem Fahrrad verunglückt ist.«
Lisa Baumann bewegte die blassen Lippen. »Verunglückt?« fragte sie mit tonloser Stimme. Natürlich war ihr dieser Gedanke längst selbst gekommen, aber zu hören, wie jemand anders ihn aussprach, hatte etwas besonders Erschreckendes.
»Es ist ja nur eine Möglichkeit«, erwiderte der Beamte ruhig. »Ich fange mit der Umfrage bei meinen Kollegen an. Wollen Sie nicht wieder nach Hause gehen? Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, rufe ich Sie an, ich verspreche es Ihnen.«
»Nein, bitte, ich möchte hierbleiben!« Es klang wie ein Aufschrei. »Ich… ich hätte zu Hause keine Ruhe«, fügte sie leise hinzu. »Bitte, lassen Sie uns hierbleiben.«
»Aber wenn der Junge in der Zwischenzeit nach Hause kommt, dann sind Sie nicht da, Frau Baumann«, gab er zu bedenken.
Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Unglücklich stand sie auf. Der Beamte hatte natürlich recht. Und vielleicht war Pablo ja schon da, wenn sie jetzt zurückkehrten, und der ganze Alptraum war vergessen. Doch wenn sie ehrlich war, dann glaubte sie nicht mehr an ein solches Wunder. »Sie sagen uns wirklich sofort Bescheid?« fragte sie. »Sie vergessen uns nicht?«
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte er. »Sie können sich darauf verlassen.«
Schweigend schob sie ihren Sohn zur Tür, und sie verließen den Raum. Er sah ihnen durch das Fenster nach, wie sie mit gesenkten Köpfen nebeneinander herliefen. Dann griff er zum Telefon. Wenn er konnte, würde er ihnen helfen. Er hoffte sehr, daß es ihm gelang.
*
Adrian saß in seinem Auto und war auf dem Weg nach Hause. Jedenfalls dachte er das. Aber als er einige Minuten gefahren war, stellte er fest, daß er den völlig falschen Weg eingeschlagen hatte. Wo war er denn nur mit seinen Gedanken? Ärgerlich schimpfte er vor sich hin, als er plötzlich begriff, wohin er fuhr, denn die edle Fassade des King’s Palace tauchte vor ihm auf. Es war, wie er zumindest vom Hörensagen wußte, eines der teuersten Hotels der Stadt. Aber was wollte er hier? Warum war er hierher gefahren?
Er beschloß, sich diese Frage nicht zu beantworten, denn die Antwort wäre ihm peinlich gewesen: Er wollte wissen, wo Stefanie Wagner, die Frau mit den Veilchenaugen, arbeitete. Aber soweit war er noch nicht, daß er das zugeben konnte. Und warum sollte er sich in seinem Urlaub nicht einmal eines der Nobel-Hotels von Berlin ansehen? Als normaler Bürger dieser Stadt hatte man dazu sonst ja nicht allzuviel Gelegenheit. Das King’s Palace stand zwar nicht auf seiner Liste von Sehenswürdigkeiten, denen er in seiner Urlaubswoche einen Besuch abstatten wollte, aber es stand ihm schließlich frei, diese Liste zu ergänzen und abzuändern. Es war sein Urlaub!
Kurz entschlossen überließ er sein Auto einem der Bediensteten. Er würde sich einen vermutlich sündhaft teuren Kaffee im King’s Palace genehmigen. Und vielleicht fand er ja bei dieser Gelegenheit rein zufällig heraus, welcher Arbeit die schöne Stefanie Wagner in diesen heiligen Hallen nachging.
Der Gedanke gefiel ihm. Zwar hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, was er mit diesem Wissen anfangen sollte, aber das würde sich dann schon ergeben. Er nahm in der edlen Bar Platz, gab seine Bestellung auf und lehnte sich behaglich zurück. Sein erster Urlaubstag war anders verlaufen als geplant – aber… Nun ja, man mußte sehen, was sich daraus ergab.
Unauffällig sah er sich um. Die Ausstattung war unaufdringlich, aber teuer und elegant. Eine gelungene Mischung aus gediegen und modern, fand Adrian. Das gab es nicht allzu oft, wie er wußte. Gelegentlich fuhr er zu Kongressen, und bei dem Gedanken an die Hotelzimmer, in denen er dann jeweils untergebracht war, fuhr ihm ein leichter Schauder über den Rücken. Es waren in der Regel gute und auch teure Häuser, aber dennoch waren die Zimmer unpersönlich und oft genug sogar geschmacklos eingerichtet. Hier jedoch war jemand mit viel Liebe zum Detail am Werk gewesen.
Er überlegte gerade, wie er sich am besten nach Stefanie Wagner erkundigen sollte, als er durch erregte Stimmen am Nebentisch abgelenkt wurde. Unwillkürlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf die beiden dunkelhaarigen Männer, die heftig gestikulierend miteinander sprachen. Im ersten Augenblick hatte er angenommen, daß ein Streit ausgebrochen war, aber nun begriff er, daß die beiden Italiener waren und daß ihre Heftigkeit lediglich Ausdruck ihres südländischen Temperaments war. Er lächelte. Italien… Er war schon lange nicht mehr dort gewesen. Ein Urlaub am Meer, mildes Wetter und gutes italienisches Essen – das wäre vielleicht auch etwas gewesen für seinen Urlaub. Aber eine Woche war für ein solches Vorhaben eindeutig zu kurz.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« fragte der Kellner die beiden Italiener am Nebentisch, und einer von ihnen antwortete in fast akzentfreiem Deutsch: »Ja, bitte. Aber wir möchten vorher noch einen Blick in die…«
Adrian hörte nicht mehr zu. Auf einmal war ihm der verunglückte Junge wieder eingefallen, der nicht sprach. Sie hatten sich die ganze Zeit Gedanken über die möglichen medizinischen Ursachen gemacht, statt auf die nächstliegende Idee zu kommen: Vielleicht konnte der Kleine kein Deutsch! Er war so blond, daß sie alle automatisch davon ausgegangen waren, er müsse Deutscher sein. Wie dumm sie gewesen waren!
Adrian war auf einmal fast sicher, daß hier die Lösung des Problems zu suchen war. Er mußte sofort zurück in die Klinik, um festzustellen, ob er auf dem richtigen Weg war. Eilig trank er seinen Kaffee aus. Den Gedanken, daß er Julia genausogut anrufen und ihr seine Überlegungen mitteilen konnte, verwarf er sofort wieder. Nein, nein, er mußte selbst mit dem Jungen sprechen.
Fünf Minuten später war er bereits auf dem Weg zurück in die Kurfürsten-Klinik. Nun wußte er zwar noch immer nicht, in welcher Funktion Stefanie Wagner im King’s Palace arbeitete, aber das ließ sich ja auch später noch herausfinden. Sie würde sicher in den nächsten Tagen nicht kündigen.
Er pfiff vor sich hin – das klang ungefähr so falsch wie sein Gesang, doch er selbst hörte es nicht. Er gestand es sich nicht ein, aber er war froh, einen Vorwand gefunden zu haben, noch einmal in die Klinik zurückkehren zu können. Es stimmte schon. Er war mit seinem Beruf verheiratet. Und eigentlich, fand er, war das auch völlig in Ordnung. Es war eine ausgesprochen glückliche Ehe bisher.
Unwillkürlich mußte er lächeln. Julia Martensen und Monika Ullmann würden es sich natürlich nicht nehmen lassen, ihn aufzuziehen – aber wenn es ihm gelang, den Kleinen