Stimme: »Mein Gott, Steffi, du kannst einem aber auch einen Schrecken einjagen!«
Oliver Mahnert, ihr Exfreund! Sie seufzte unhörbar, dann wandte sie ihm den Kopf zu und fragte: »Woher weißt du denn, daß ich hier bin?«
»Ich habe in deinem Büro angerufen, weil ich dich zum Essen einladen wollte heute abend. Aber statt mit dir wurde ich mit deinem Chef verbunden. Ich soll dich grüßen von ihm.«
»Ist ihm bestimmt schwergefallen«, murmelte Stefanie. »Für den zählen nur Menschen, die arbeitsfähig sind.«
Das war ungerecht, und sie wußte es. Wingensiefen und sie arbeiteten gut zusammen, seit sie sich an seine Wutausbrüche gewöhnt hatte. Sie konnte auch wütend werden, und das hatte sie ihn schon gelegentlich spüren lassen. Zuerst war er völlig verblüfft darüber gewesen, daß er nicht der einzige war, der schreien konnte. Dann hatte er offenbar darüber nachgedacht und war seitdem, zumindest ihr gegenüber, ein bißchen vorsichtiger.
»Was ist denn nun passiert?« fragte Oliver Mahnert besorgt. »Wird hier auch alles für dich getan?«
Sie hätte ihn schütteln können. Vor fünf Jahren hatte sie geglaubt, in ihn verliebt zu sein, und gerade seine fürsorgliche Art hatte sie für ihn eingenommen. Aber schon nach kurzer Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, in seiner Gegenwart zu ersticken und sich von ihm getrennt. Sie war kein Püppchen, auf das ständig jemand achtgeben mußte! Sie konnte recht gut für sich selbst sorgen.
Oliver hatte das einfach nicht einsehen wollen. Und deshalb tat er so, als sei diese Trennung nur vorübergehend – sie würde, glaubte er, nur solange dauern, bis Steffi endlich seinen wahren Wert erkannt und begriffen hatte, daß sie ihn in Wirklichkeit ebenso liebte wie er sie. Und so hatte er beschlossen, auf sie zu warten, denn für ihn stand außer Frage, daß sie die Frau seines Lebens war.
Stefanie hatte ihm schon mehr als hundertmal erklärt, daß er sich irrte, aber er glaubte ihr nicht. Mit überlegenem Lächeln hörte er sich ihre Erklärungen jedesmal an – und dann war alles wie zuvor. Er lud sie zum Essen ein, er schickte ihr Blumen, er rief sie an, er schrieb ihr von jeder seiner Reisen reizende Karten. Er lud sie ins Konzert und in die Oper ein, und wenn sie Kummer hatte, dann war er der erste, der kam, um sie zu trösten. Wenn sie es zuließ. Meistens lehnte sie seine Einladungen ab und bedankte sich nicht einmal für die Blumen, die er ihr schickte. Und ihren Kummer teilte sie auch lieber mit anderen Menschen. Aber manchmal hatte eben auch sie ihre schwachen Momente.
Kurz gesagt: Oliver Mahnert machte sie wahnsinnig. Sie mochte ihn wirklich gern, etwas anderes ging auch gar nicht bei einem solchen Musterexemplar von Mann. Er sah gut aus mit seinen braunen Haaren und den ebenfalls braunen Augen im klaren, energischen Gesicht. Besonders groß war er nicht und auch eher kräftig als schlank, aber er kleidete sich ausgesprochen elegant und geschmackvoll. Er war Teilhaber einer gutgehenden Rechtsanwaltskanzlei und besaß eine wunderschöne Wohnung. Und immer wieder betonte er, daß sie auch für eine vierköpfige Familie groß genug war. Schließlich hatte er sie im Hinblick auf diese Familie, die er zu gründen gedachte, gekauft.
Aber Stefanie liebte ihn nun einmal nicht, daran war nicht zu rütteln. Und sie wußte mittlerweile wirklich nicht mehr, was sie noch tun sollte, um ihn davon zu überzeugen. Was immer sie in dieser Hinsicht sagte, es schien ihn überhaupt nicht zu erreichen.
»Hier wird sehr gut für mich gesorgt«, sagte sie als Antwort auf seine Frage. »Ständig kommt jemand und sieht nach mir.«
»Seit ich hier bin, war noch niemand da«, meinte er und sah auf seine Uhr. Wahrscheinlich, dachte sie ein wenig boshaft, wußte er genau, wie viele Minuten er bereits bei ihr war.
»Oliver«, sagte sie bittend, »fang nicht schon wieder an, mich zu bevormunden. Es geht mir nicht besonders gut, und ich habe keine Kraft mehr, mit dir zu streiten. Es ist lieb, daß du gekommen bist…«
»Aber am liebsten wäre es dir, wenn ich bald wieder gehe«, stellte er fest. Er wirkte nicht beleidigt, und das rechnete sie ihm hoch an.
»Ja«, gab sie zu. »Am liebsten liege ich ganz allein hier und lasse mich ein wenig hängen.«
»Aber dir ist nichts passiert?« fragte er besorgt. »Ich meine, du hast keine Verletzungen oder so etwas?«
»Nur einen Schock. Aber der reicht mir völlig.«
»Natürlich, entschuldige bitte die dumme Frage«, sagte er hastig. Dann fügte er schüchtern hinzu: »Laß mich noch ein paar Minuten hier sitzenbleiben, ja? Ich verspreche dir, kein Wort zu sagen. Aber vielleicht hilft es dir doch, wenn du weißt, daß ich in deiner Nähe bin.«
Sie schloß die Augen. Wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre, wäre sie mit Sicherheit auf ihn losgegangen. Er konnte es einfach nicht lassen, sie zu umsorgen wie eine Mutter ihr Kleinkind. Aber für dieses eine Mal würde sie es ihm durchgehen lassen. Für dieses eine Mal.
Wenn Stefanie Wagner gewußt hätte, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die nächsten Monate ihres Lebens haben würde, hätte sie ihre Kräfte vielleicht doch zusammengenommen und ihn gebeten, ihr Zimmer umgehend zu verlassen…
*
Dr. Adrian Winter war mit Pablo alleingeblieben. Er hatte ja Zeit genug und konnte es sich leisten, noch eine Weile am Bett des Jungen sitzenzubleiben. Julia dagegen hatte zurück in die Notaufnahme gemußt. »Aber erzähl mir hinterher genau, was für einen Eindruck du von seiner Gastfamilie hast«, hatte sie ihm zugeflüstert.
Natürlich würde er das tun. Er war ja selbst gespannt auf Lisa und Alexander – mittlerweile wußte er, daß die Baumann mit Nachnamen hießen. Der nette Polizist hatte versprochen, sie sofort zu benachrichtigen. Sie mußten eigentlich jeden Augenblick eintreffen.
Er hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als es zaghaft klopfte, und gleich darauf kam eine sehr blasse, zart aussehende Frau mit aschblonden Haaren zur Tür herein, gefolgt von einem Jungen, der ungefähr so alt wie Pablo sein mochte. Auch er war blaß, aber als er Pablo erkannte, blitzten seine blauen Augen, und er stürzte auf das Bett zu. Den Arzt schien er gar nicht wahrzunehmen.
Im Nu waren die beiden Jungen in ein Gespräch verwickelt, von dem der verblüffte Adrian Winter fast nichts verstand. Es mußte sich um eine Art Geheimsprache handeln, in der deutsche und spanische Wörter, Zeichen- und Körpersprache sowie Grimassen eine Rolle spielten.
Der junge Arzt gab es schnell auf, etwas verstehen zu wollen. Aber nun beugte sich auch Alexanders Mutter über Pablo, und die Art, wie sie ihm sanft über das Gesicht strich und seinen Namen sagte, während ihr die Tränen in den Augen standen, sagte mehr als tausend Worte über die Gefühle, die sie ihrem kleinen Gast aus Argentinien entgegenbrachte.
Dann richtete sie sich auf und überließ die beiden Jungen ihrem aufgeregten Gespräch. Sie hatte zwar unendlich viele Fragen zu dem, was eigentlich geschehen war, aber sie konnte warten.
»Frau Baumann?« fragte Adrian.
Sie zuckte zusammen. Es war offensichtlich, daß sie, genau wie ihr Sohn, den Arzt bisher gar nicht wahrgenommen hatte.
»Ich bin Dr. Winter, ich habe den Unfall zufällig mit angesehen und veranlaßt, daß Pablo und die anderen Beteiligten in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert wurden.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie leise. »Sie müssen mich für sehr unhöflich halten, daß ich Sie noch nicht einmal begrüßt habe. Aber Sie können sich nicht vorstellen, was für ein grauenhafter Tag hinter uns liegt. Wir haben uns die schrecklichsten Dinge ausgemalt, die Pablo hätten passiert sein können.«
»Ich denke doch, daß ich mir das vorstellen kann«, meinte Adrian nachdenklich. »Es tut mir auch sehr leid, daß es so lange gedauert hat, bis Sie benachrichtigt wurden. Aber der kleine Kerl wollte zuerst überhaupt nicht mit der Sprache herausrücken – seinen Namen nicht sagen und auch nicht Ihren.«
»Er spricht ja auch kaum Deutsch«, sagte sie leise.
»Oh, wir haben alle möglichen Sprachen durchprobiert«, gestand Adrian lächelnd. »Es war kein Sprachproblem, sondern er hatte