Der andere hob den Kopf und blickte ihn an. »Ja«
»Ich bin Dr. Winter, ich habe Ihre Frau operiert. Es geht ihr recht gut, auch wenn Sie ihr momentanes Aussehen sicher erschreckend finden. Aber das liegt an all den Schläuchen und Maschinen. Sobald sie die nicht mehr braucht, wird sie wieder ganz vertraut aussehen, glauben Sie mir das.«
»Es hätte ganz leicht schlimm ausgehen können, oder?« fragte Alexander Stolberg. »Wenn der Dachziegel nur ein bißchen anders gefallen wäre, dann…« Er beendete den Satz nicht, aber
Adrian wußte, was er hatte ausdrücken wollen.
»Ja«, gab er zu. »Es hätte tatsächlich schlimm ausgehen können. Aber es ist noch einmal gutgegangen. Ihre Frau hat einen Schutzengel gehabt, der sehr gut auf sie aufgepaßt hat.«
Nun weinte Alexander Stolberg noch heftiger. Adrian wußte, daß es nötig war, ihn eine Zeitlang weinen zu lassen. Schließlich faßte sich der junge Mann und bat: »Sagen Sie mir alles, was Sie wissen, bitte.«
Das tat Adrian, und der andere hörte ihm aufmerksam zu. Als der Arzt geendet hatte, fragte er: »Darf ich bei ihr bleiben?«
»Nein, das wird nicht gehen. Es ist schon eine Ausnahme, daß man Sie so kurz nach der Operation überhaupt zu ihr gelassen hat. Kommen Sie morgen früh wieder, dann können Sie sicher schon mit ihr sprechen.«
»Ein paar Minuten noch, ja?« bat Alexander Stolberg, und wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht.
Adrian nickte, verabschiedete sich und gab dem Stationsarzt Bescheid. Dann verließ er langsam die Klinik. Er war hart im Nehmen, aber dieser Tag hatte es wirklich in sich gehabt!
*
Karl Zapfmann hatte sich gedacht, daß man Alexander nicht erlauben würde, bei seiner Frau zu bleiben, und so hatte er sich vorsichtshalber wach gehalten. Das war ihm nicht schwergefallen, denn er hätte ohnehin nicht schlafen können, weil ihm einfach zu viel im Kopf herumspukte.
Als es schließlich klingelte, beeilte er sich zu öffnen. »Da sind Sie ja«, sagte er freundlich.
»Ich sah, daß Sie noch Licht hatten«, erwiderte Alexander Stolberg, »sonst hätte ich nicht gewagt, Sie noch zu stören.«
»Sie stören nicht«, versicherte Karl. »Im Gegenteil. Ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen, der Tag war zu aufregend. Da bin ich froh, wenn ich noch ein wenig menschliche Gesellschaft habe – meine Gespräche mit Cora sind manchmal wenig ergiebig. Ein Bier?«
»Gern«, sagte Alexander und ließ sich in den Sessel fallen, den der alte Herr ihm angeboten hatte.
»Flasche oder Glas?«
»Flasche reicht. Schläft Nicky?«
»Wie ein Engel. Sie ist ein sehr liebes kleines Mädchen.«
»Sie ist nicht meine Tochter, hätten Sie das gedacht.«
»Nein«, antwortete Karl überrascht. »Wie hätte ich das auch denken sollen? Der erste Eindruck, den ich von Ihnen hatte, war, daß Ihr Glück vollkommen sein muß: Ein glückliches junges Paar mit einem gesunden, niedlichen Baby…«
»Ich habe Jessica geheiratet, weil sie in ihrer Familie erledigt gewesen wäre und mit einem unehelichen Kind. Ihre Eltern sind schrecklich konservativ, die hätten das nie und nimmer akzeptiert. Jessica und ich waren immer gut miteinander befreundet, und dann habe ich sie eines Tages mit einem meiner Freunde bekannt gemacht – mit Ben. Er hat nicht eher Ruhe gegeben, bis er eine Frau herumgekriegt hat, und genauso hat er’s auch mit Jessica getan. Sie können sich nicht vorstellen, Herr Zapfmann, wie viele Vorwürfe ich mir schon deswegen gemacht habe.«
»Aber Ihre Frau ist erwachsen«, warf Karl ein. »Sie mußte selbst wissen, was sie tat.«
»Schon«, gab Alexander zu, »aber ich kannte Ben schließlich, ich hätte die ganze Sache also verhindern können. Ich hab’ nur gedacht, ihr passiert das nicht, sie ist nämlich ziemlich zurückhaltend sonst…«
»Und da waren Sie enttäuscht von ihr, daß sie auf Ihren Freund hereingefallen ist?«
»Ein bißchen schon«, gab Alexander zu.
»Ich verstehe«, sagte Karl ziemlich nachdenklich. »Andererseits hatten Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie die beiden zusammengebracht haben. Und deshalb haben Sie ihr den Vorschlag gemacht, sie zu heiraten, damit zumindest nach außen hin alles in Ordnung ist.«
»Ja, genauso war es«, erwiderte Alexander leise. »Wir haben abgemacht, uns nach einer bestimmten Zeit wieder scheiden zu lassen. Das wird ihren Eltern auch nicht gefallen, aber es ist nicht so schlimm für sie wie ein uneheliches Kind – jedenfalls wird Jessica deshalb nicht aus der Familie ausgestoßen werden.«
»Ist denn die Familie so wichtig für sie?«
»Ich glaube schon. Sie sagt immer, sie hat nun einmal konservative Eltern, und es seien die einzigen, die sie hat.«
Karl lächelte. »Schön gesagt«, meinte er. »Und wann haben Sie gemerkt, daß Sie sich in Ihre eigene Frau verliebt haben?«
»Ganz richtig bewußt geworden ist es mir erst, als ich es vorhin zu Ihnen gesagt habe«, gestand Alexander. »Was soll ich jetzt bloß tun?«
»Das fragen Sie noch? Sie sagen es ihr, sobald sie die Augen aufschlägt, Herr Stolberg!«
»Aber…«
»Ich will jetzt keinen Satz hören, der mit aber anfängt!« Karl erhob seine Stimme und klang auf einmal sehr energisch. »Sie beide sind füreinander bestimmt, das habe ich gleich gesehen. Und Ihre Frau liebt Sie auch, Herr Stolberg – wenn Sie nicht so blind wären, dann hätten Sie das längst bemerkt!«
»Sie irren sich! Ben hat mich neulich angerufen, und das habe ich ihr erzählt. Ihre Reaktion hat mir gezeigt, daß sie ihn immer noch liebt. Sie will sogar wieder Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Wahrscheinlich, um ihm endlich die Hölle heiß zu machen, wie er es verdient«, stellte Karl trocken fest. »Ganz bestimmt nicht, um sich erneut mit ihm einzulassen.«
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Alexander, doch seine Augen waren auf einmal voller Hoffnung.
»Erfahrung von fünfundsiebzig Jahren«, antwortete Karl gemütlich. »Dachten Sie vielleicht, ich sei in meinem Leben nie verliebt gewesen und hätte mich dabei dumm angestellt?«
Er sah das Gesicht seines Gegenübers und lachte. »Tut mir leid, aber ich finde wirklich, daß Sie sich dumm anstellen, Herr Stolberg. Aber das tun Männer ja oft, wenn es um die Liebe geht! Fahren Sie morgen früh in die Klinik, reden Sie mit Ihrer Frau, und Sie werden ja sehen…«
»Kann ich Nicky wirklich bei Ihnen lassen?«
»Ich würde sie gar nicht hergeben, wo sie jetzt so schön schläft«, erwiderte Karl. »Und nun gehen Sie ins Bett und schlafen wenigstens noch ein paar Stunden – sonst sehen Sie morgen genauso blaß aus wie Ihre Frau, und sie bekommt einen Schrecken. Das wollen Sie doch bestimmt nicht, oder?«
Der junge Mann ergriff seine Hand, drückte sie ganz fest und stürzte aus dem Haus, aber Karl hatte doch noch gesehen, daß seine Augen verdächtig feucht geworden waren.
*
Dr. Adrian Winter hatte nur wenige Stunden geschlafen, aber er fühlte sich trotzdem erfrischt. Das Abendessen bei Frau Senftleben hatte er ausnahmsweise einmal ausgeschlagen und sich statt dessen sofort ins Bett gelegt, als er nach Hause gekommen war. Das war eine weise Entscheidung gewesen.
Nun stand er bereits wieder am Bett von Jessica Stolberg, und zu seiner größten Freude war sie wach. »Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Mein Name ist Dr. Winter, ich habe Sie gestern operiert.«
»Operiert?« fragte sie ungläubig. »Ich bin doch nicht krank.«
»Wenn man von dem Dachziegel absieht, der Ihnen auf den Kopf gefallen ist, sind Sie kerngesund«, gab Adrian lächelnd zurück.