hier«, sagte Karl und erklärte dann so schnell wie möglich, warum er anrief. »Verstehen Sie?« fragte er schließlich. »Ich mache mir Sorgen um meine Nachbarin. Sie müßte längst wieder zurück sein.«
Der Mann am anderen Ende hatte ihm schweigend zugehört. »Moment mal!« sagte er. »Hier ist sehr wenig los, ich rufe mal die Linda, die sitzt nämlich heute an der Kasse. Es ist nur eine Kasse offen, so wenig Betrieb herrscht hier.«
Der Hörer wurde geräuschvoll abgelegt, und Karl faßte sich in Geduld. Mit einem Ohr lauschte er, ob es nicht vielleicht doch noch klingelte und Jessica Stolberg plötzlich vor seiner Tür stand, um ihre kleine Tochter abzuholen. Was hätte er darum gegeben, wenn sie jetzt aufgetaucht wäre! Aber alles blieb still.
Nach einer halben Ewigkeit rief jemand freundlich: »Hallo, sind Sie noch dran?«
»Ja«, antwortete Karl. »Sind Sie die Dame, die an der Kasse sitzt?«
»Bin ich. Wie sieht denn die Kundin aus, die Sie meinen? Mein Chef hat mir gerade gesagt, daß Sie auf jemanden warten.«
»Eine sehr hübsche junge Frau«, begann Karl. »Dunkelblonde Haare, sie hat einen Pferdeschwanz getragen heute morgen, Jeans und…«
»Ich weiß, wen Sie meinen!« rief die Frau am anderen Ende der Leitung. »Die mit der kleinen Tochter! Sind Sie der Nachbar, der auf das Baby aufpaßt?«
»Das hat Sie ihnen erzählt?« fragte Karl Zapfmann aufgeregt. »Ja, genau das ist sie. Jessica Stolberg.«
»Sie ist gerade erst gegangen, nicht wahr? Wir haben noch geulkt, daß sie sich beeilen muß, bei dem Wetter nach Hause zu kommen.«
»Aber sie ist bisher nicht nach Hause gekommen, das ist es ja, was mich so beunruhigt! Wissen Sie, wie lange es her ist, daß sie bei Ihnen weggegangen ist?«
»Lange!« antwortete die Kassiererin wie aus der Pistole geschossen. »Über eine halbe Stunde auf jeden Fall. Sie war unheimlich bepackt, aber sie hat gesagt, das sei kein Problem, sie hätte es nicht weit bis nach Hause. Es klang jedenfalls nicht so, als müsse sie eine halbe Stunde laufen – das hätte sie mit den schweren Taschen auch gar nicht geschafft, glaube ich.«
»Höchstens sechs, sieben Minuten hat sie zu laufen!« rief Karl. »Kann es sein, daß sie noch irgendwo anders hingehen wollte?«
»Das weiß ich natürlich nicht, gesagt hat sie jedenfalls nichts davon. Sie hat nur davon geredet, daß sie schnell nach Hause zurück wolle, weil Sie und ihre kleine Tochter auf sie warten.«
»Dann muß etwas passiert sein«, murmelte Karl. »Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Auskunft.«
»Nichts zu danken. Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen. Vielleicht ist ihr ja wirklich etwas eingefallen, das sie noch brauchte. Sie wissen doch, wie das ist.«
»Ja, ja«, sagte Karl abweisend, »natürlich weiß ich, wie das ist. Nochmals recht herzlichen Dank für Ihre Mühe.« Er legte auf.
Cora hatte gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war, denn sie stand auf, trottete zu ihm herüber und leckte ihm die Hände. Dabei sah sie ihm mit einem so treuherzigen Blick in die Augen, daß er sie gerührt hinter den Ohren kraulte.
»Du bist sowieso die Beste, Cora«, sagte er. »Aber was machen wir nun? Jetzt sitzen wir ganz schön dumm da. Und bald wird auch Nicky merken, daß etwas nicht in Ordnung ist, und dann ist hier garantiert die Hölle los. Abgesehen davon, daß ich mir allmählich richtige Sorgen um die junge Frau mache.«
Cora legte den Kopf schief und winselte leise.
»Na, schön, wie du meinst«, seufzte Karl. »Eine halbe Stunde warte ich noch, aber dann muß ich etwas unternehmen, Cora!«
*
Alexander Stolberg blickte ungläubig nach draußen. Einen so schwarzen Himmel mitten an einem Vormittag hatte er noch nie gesehen, soweit er sich erinnerte. Richtig furchterregend wirkte das, fand er. Heute mittag jedenfalls würde er das Gebäude nicht verlassen, das stand fest. Zum Glück gab es eine Kantine im Haus, die würde er dann eben ausprobieren.
Er konnte nur hoffen, daß bis zum Abend das Schlimmste überstanden war. Bei diesem Wind war auch das Autofahren kein Vergnügen. Merkwürdig war nur, daß es noch immer nicht richtig regnete. Ab und zu wurden zwar ein paar vereinzelte Tropfen an die Fensterscheibe geklatscht, aber es war der Wind, der die Stadt im Griff hatte, nicht der Regen.
Er war froh, daß Jessica nicht irgendwo unterwegs zur Arbeit war, es hätte ihn beunruhigt, sie jetzt draußen zu wissen. Aber um sie und Nicky mußte er sich keine Sorgen machen, sie waren in ihrem neuen Zuhause sicher untergebracht. Allerdings hatte Jessica erwähnt, daß sie einkaufen gehen müsse, doch es waren ja nur ein paar Schritte bis zum nächsten Laden, das hatte sie bestimmt längst erledigt. Wenn das Telefon schon funktioniert hätte, dann hätte er sie gern angerufen, doch das ging leider noch nicht.
»Na, Herr Stolberg, haben Sie schon mal ein solches Wetter erlebt?«
Hastig drehte er sich um. Sein Chef, Herr Grüner, stand in der Tür und lächelte ihn freundlich an. Hoffentlich stand er noch nicht allzu lange da, es machte sicher keinen guten Eindruck, wenn ein neuer Mitarbeiter träumend am Fenster lehnte, statt eifrig zu arbeiten.
»Nein, habe ich nicht«, gestand er und versuchte, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
»Ihre Frau ist hoffentlich nicht unterwegs?« erkundigte sich Herr Grüner, und Alexander war ihm für diese Frage dankbar.
»Daran habe ich gerade gedacht«, gestand er. »Ich bin froh, daß sie zu Hause ist, ehrlich gesagt. Das sieht ja aus wie der reinste Weltuntergang. Haben Sie so ein Wetter in Berlin öfter, oder ist das auch für Sie etwas Besonderes, Herr Grüner?«
»Keine Sorge, es ist etwas Besonderes, obwohl wir hier manchmal tatsächlich extremes Wetter haben. Nein, wirklich, Herr Stolberg, Sie müssen jetzt nicht damit rechnen, daß sich der Himmel hier ständig verdüstert.«
Sie mußten beide lachen, und dann bat Herr Grüner seinen neuen Mitarbeiter, ihn zu einem Gespräch mit anderen Kollegen zu begleiten. Dieses Gespräch entwickelte sich zu einer ausgesprochen hitzigen Diskussion um zukünftige Strategien der Messegesellschaft. Alexander hörte zunächst nur zu, beteiligte sich aber schließlich an der Debatte. Der schwarze Himmel und die Gedanken an Jessica waren fürs erste vergessen.
*
Dr. Adrian Winter sah völlig erschöpft aus, genauso wie seine anderen Kollegen auch. Ihr Dienst hatte erst vor wenigen Stunden begonnen, aber schon jetzt hatten sie mehr Patienten behandeln müssen als manchmal an einem ganzen Tag. Zum Glück ließ der Wind allmählich nach, dafür goß es jetzt auf einmal in Strömen.
Wieder öffneten sich die Türen der Notaufnahme, und im Laufschritt stürmten zwei Sanitäter herein, die eine blutüberströmte junge Frau brachten. »Jungs, wir können keine Patienten mehr aufnehmen«, wandte Adrian Winter ein, doch mehr konnte er nicht vorbringen.
»Ihre Halsschlagader ist verletzt!« keuchte derjenige der Sanitäter, der seine Hand fest auf eine Wunde am Hals der Patientin preßte. »Sie muß sofort operiert werden – tut uns leid, Herr Dr. Winter, aber es sieht in jeder Notaufnahme der Stadt genauso aus wie hier. Wir wissen nicht mehr, wohin wir die Patienten noch bringen sollen.«
Adrian schrie bereits. »Ein OP-Team für eine verletzte Halsschlagader, und dann her zu mir, wer immer gerade abkömmlich ist!« Danach wandte er sich wieder an die Sanitäter. »Was ist passiert?«
»Ein herunterfallender Dachziegel hat sie getroffen«, antwortete einer der Männer. »Sie war bewußtlos, ist aber unterwegs zu sich gekommen.«
Adrian nickte nur, die Patientin wurde umgebettet. Nun übernahm Adrian es, seine Hand fest auf die Wunde zu drücken, um das rhythmisch pulsierende Blut zurückzuhalten, während die Sanitäter die Klinik bereits eiligst wieder verließen.
»Ich brauche Hilfe!« schrie Adrian noch einmal, und im nächsten Augenblick stand Schwester Monika neben ihm.
»Blutgruppe