hätte sterben müssen, wenn Adrian sich nicht bereiterklärt hätte, sie zu operieren. Daher lastete ein enormer Druck auf ihm, zumal die Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte, nicht nur schwierig, sondern auch langwierig war – und er selbst war nach den vergangenen Stunden in der Notaufnahme auch nicht mehr frisch und ausgeruht. Außerdem stand er unter höllischem Zeitdruck, denn der Zustand der Patientin war bereits bei ihrer Einlieferung kritisch gewesen. Sie hatte viel Blut verloren, obwohl der Rettungswagen schnell zur Stelle gewesen war und die Sanitäter den Ernst der Situation sofort erfaßt hatten. Es war ihnen dann in der Notaufnahmen zwar gelungen, den Zustand der Patientin zu stabilisieren, aber das bedeutete nicht, daß sie bereits gerettet war. Nach wie vor war ihr Zustand kritisch.
Dr. Werner Roloff, der hagere, grauhaarige Anästhesist, war Adrian Winter in dieser Situation eine große Hilfe – ebenso wie Schwester Claudia, die eigentlich keine OP-Schwester war, sich aber dieser ungewohnten Arbeit mit ihrer üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt annahm. Sie paßte auf, und jeder ihrer Handgriffe saß.
»Wie sieht’s aus, Werner? Hält sie durch?«
»Mit meiner Hilfe wird sie das schon tun«, antwortete Werner Roloff ruhig. »Keine Sorge, Adrian, sie ist jung und gesund, sie hat eine Menge Kraftreserven.«
Ihm entging Adrians erleichterter Seufzer nicht. Er hatte sofort begriffen, daß sein junger, hochgeschätzter Kollege unter stärkerem Streß als gewöhnlich stand – kein Wunder, hatte er doch sicher bereits einiges hinter sich in seiner Notaufnahme an diesem Tag, an dem sogar das Wetter verrückt spielte. Und dann mußte er noch eine solche Operation vornehmen, die selbst für jemanden, der sich darauf spezialisiert hatte, schwierig genug gewesen wäre.
Werner Roloff bewunderte
Adrians Mut – und sein chirurgisches Können. Adrian arbeitete mit unglaublicher Präzision, und er würde diese junge Frau retten, davon war er überzeugt.
*
Fassungslos blickte Karl Zapfmann auf die völlig überfüllte Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. So ein Chaos hatte er ja in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Immerhin war er bereits zweimal hier gewesen, und jedesmal war es ihm relativ ruhig vorgekommen. Aber das! Überall saßen oder lagen Menschen mit kleinen oder größeren Verletzungen, mit Kreislaufbeschwerden, mit Schmerzen. Einige jammerten, andere weinten, wieder andere gaben keinen Laut von sich, sondern starrten nur blicklos vor sich hin.
Er hatte noch eine ganze Weile zu Hause abgewartet und sich dann ein Taxi gerufen. Nicky hielt er auf dem Arm, und Cora hatte er erklärt, daß sie ausnahmsweise allein zu Hause bleiben müsse. Als wisse die Hündin, in welcher Notsituation er sich befand, hatte sie keinen Einspruch erhoben, sondern ihn gehen lassen. Vermutlich trug auch die allmähliche Wetterbesserung ihrer Verständigkeit bei. Es regnete zwar noch, aber es war längst nicht mehr so dunkel wie zuvor, so hatte Cora jetzt auch nicht mehr solche Angst.
Er hielt Ausschau nach jemandem, den er wegen Frau Stolberg befragen konnte. Schließlich sah er eine gutaussehende, schmale Frau um die Fünfzig, die ihm vertrauenerweckend erschien. »Frau Doktor, entschuldigen Sie bitte«, begann er höflich, und sie wandte sich ihm zu. Sie trug ein Namensschild, auf dem Dr. Martensen stand. Sie sah müde und erschöpft aus, fand er, und er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben.
»Ist etwas mit der Kleinen?« fragte sie sofort.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, erklärte er hastig. »Ich suche nach… nach meiner Tochter, Jessica Stolberg. Sie ist hier eingeliefert worden, ein Dachziegel ist ihr auf den Kopf gefallen, und…«
»Ach, das ist Ihre Tocher? Mein Kollege operiert sie seit geraumer Zeit…«
»Dr. Winter?« fragte Karl erfreut. »Ich kenne Dr. Winter…«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Ich habe das Gefühl, daß ich Sie auch kenne«, murmelte sie nachdenklich. »Waren Sie schon einmal hier?«
»Ja, ich hatte kürzlich einen kleinen Unfall. Mein Name ist Zapfmann.« Er hatte kein Interesse daran, das Thema zu vertiefen, sonst kam womöglich noch heraus, daß er gar nicht Jessica Stolbergs Vater war. »Wo ist sie? Jessica, meine ich.«
Frau Dr. Martensen sah auf die Uhr und sagte: »Die Operation müßte eigentlich bald beendet sein. Gehen Sie doch auf die OP-Station und warten Sie dort auf Dr. Winter. Er wird Ihnen alle Informationen geben, Herr Zapfmann.«
Sie erklärte ihm den Weg, er bedankte sich und eilte davon. Das war ja einfacher gewesen, als er befürchtet hatte.
*
»Vielen Dank, Werner, vielen Dank, Schwester Claudia«, sagte Adrian, als er sich endlich aufrichtete und damit die Operation an Jessica Stolberg für beendet erklärte. »Das war’s, und ich kann nur hoffen, daß wir das Leben der Patientin wirklich retten konnten.«
Die beiden Ärzte verließen den OP, während Jessica Stolberg bereits von Schwester Claudia auf die Intensivstation gebracht wurde. »Gute Arbeit, Adrian«, sagte Werner Roloff aufrichtig bewundernd. »Ich weiß nicht, wie du das eigentlich machst – Gefäßchirurgie ist schließlich nicht dein Fachgebiet.«
»Ich hätte es nicht gemacht, wenn ein Spezialist frei gewesen wäre«, gestand Adrian. »Aber die Frau hatte keine andere Chance als eine schnelle Operation.«
Sie zogen die OP-Kleidung aus, wuschen sich und betraten den Stationsflur. »Mir scheint, in letzter Zeit sehen wir uns nur noch, wenn’s brennt«, meinte Werner Roloff. »Ich hoffe, daß wir es bald wieder einmal schaffen, ein Bier zusammen zu trinken.«
»Nichts lieber als das, Werner. Aber jetzt muß ich zurück in meine Notaufnahme. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da aussah heute morgen.«
»Sagen wir mal so: Ich ahne es. Tschüß, Adrian. Bis irgendwann einmal! Auf mich wartet bereits der nächste Patient im OP!«
»Tschüß, Werner!«
Adrian war in Gedanken noch bei der soeben beendeten Operation, und deshalb sah er Karl Zapfmann erst, als der alte Herr direkt vor ihm stand.
»Herr Dr. Winter, kann ich Sie kurz sprechen?«
»Sie?« fragte Adrian. »Sie wollten doch heute nicht kommen, Herr Zapfmann! Oder? Und wer ist das? Ich dachte, Sie hätten nur einen Hund, nun haben Sie auch noch ein Baby. Ihre Enkelin?«
»Sozusagen«, antwortete Karl Zapfmann verlegen. »Sie ist Jessica Stolbergs Tocher. Und Frau Stolberg ist meine neue Nachbarin. Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend. Sie hat die Operation überstanden – aber sie hat unglaubliches Glück gehabt. Wieso ist dieses Baby sozusagen Ihre Enkelin? Was bedeutet das alles, Herr Zapfmann?«
»Ich mußte doch wissen, was mit Frau Stolberg ist, und da habe ich behauptet, daß sie meine Tochter sei, sonst hätte man mir keine Information gegeben. Und dann habe ich gehört, daß sie operiert wird, weil…«
»Langsam, langsam, Herr Zapfmann, so schnell kann ich Ihnen nicht folgen. Ich hatte seit vielen Stunden keine Pause mehr und bin deshalb zur Zeit ein wenig begriffsstutzig. Also: Wieso ist Frau Stolbergs Tochter bei Ihnen?«
»Entschuldigung, Herr Dr. Winter!« Karl holte tief Luft, und während er neben dem jungen Arzt zum Aufzug ging, erklärte er ihm, was passiert war. »Verstehen Sie jetzt?« fragte er zum Schluß, »daß ich zu dieser kleinen Notlüge greifen mußte?«
Adria nickte nachdenklich. »Ich denke, in diesem Fall läßt sie sich vertreten.«
»Kann ich sie sehen?« bat Karl. »Ein paar Sekunden nur, Herr Dr. Winter. Dann fahre ich wieder nach Hause und warte auf Herrn Stolberg. Der hat ja noch gar keine Ahnung, was passiert ist.«
Adrian überlegte nicht lange. »Kommen Sie mit«, sagte er knapp.
Kurz darauf betraten sie die Intensivstation. Nicky hatten sie bei einer freundlichen Schwester gelassen, um sie nicht zu erschrecken.
Adrian ging voran in das Zimmer, in dem Jessica lag, und Karl Zapfmann folgte ihm zögernd. Er war noch nie auf einer Intensivstation gewesen und wirkte