»Der Teilnehmer heißt Banjamin Görlach.«
»Die Nummer wird angesagt«, erklärte die freundliche Dame, und dann ertönte eine Computerstimme, die Jessica die gewünschte Auskunft erteilte.
Sie wählte die Nummer sofort. Es war noch so früh, daß sie vielleicht Glück hatte und Ben zu Hause erwischen würde. Ihr Herz klopfte heftig, und ihre Handflächen waren ganz feucht, aber das würde er ja nicht merken. Sie mußte nur darauf achten, daß ihre Stimme nicht zitterte. Den Triumph nämlich, daß er ihre Unsicherheit bemerkte, hätte sie ihm nicht gegönnt.
»Ja, hallo?« Seine Stimme klang sehr verschlafen. Natürlich, zu den Frühaufstehern hatte Ben noch nie gehört.
»Hier ist Jessica. Guten Morgen. Habe ich dich geweckt?«
»Jessica? Ach so… Jessica.«
Die gespielte Überraschung in seiner Stimme machte sie wütend, und das half ihr. Mit einem Mal war die Unsicherheit wie weggeblasen. »Ja, die Mutter deiner Tochter, falls du dich noch erinnerst«, sagte sie kühl.
»Meiner Tochter?« Seine Stimme klang ehrlich verblüfft. »Willst du damit sagen, du hast das Kind tatsächlich gekriegt?«
»Und willst du damit sagen, daß du nichts davon gewußt hast?« Er war ein hervorragender Schauspieler, sie glaubte ihm gar nichts – auch keine noch so ehrlich wirkende Verblüffung.
»Nein, natürlich nicht!« behauptete er.
»Erzähl keinen Unsinn, Ben!« sagte sie scharf. »Natürlich hast du es gewußt, und natürlich weißt du, daß das Kind von dir ist. Das ist schließlich der Grund, weshalb du so plötzlich verschwunden bist damals.«
»Das siehst du völlig falsch!« behauptete er. »Ich wollte mich ja noch von dir verabschieden, aber dann ging alles so schnell mit…«
»Ich habe keine Lust, mir diesen Unsinn länger anzuhören«, unterbrach sie ihn. »Du bist verpflichtet, Unterhalt für deine Tochter zu zahlen, und das ist auch der Grund, weshalb ich dich heute anrufe.«
»Unterhalt?« Seine Stimme klang so, als habe sie etwas völlig Abwegiges erzählt. »Hör mal, ich wollte kein Kind. Du kannst jetzt nicht einfach behaupten, du hättest eine Tochter von mir! Und niemand kann mich zwingen…«
Wieder unterbrach sie ihn, noch eine Spur kühler als ohnehin schon. »Wenn du kein Kind willst, dann mußt du verhüten, Ben. Nicole ist deine Tochter, und wenn du nicht freiwillig für sie zahlen willst, dann werde ich dich dazu zwingen, glaub mir das. Ein Vaterschaftstest wird die Wahrheit sehr schnell ans Licht bringen!«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern legte einfach auf und verließ die Telefonzelle. Eilig lief sie mit Nicky auf dem Arm nach Hause.
So ein Mistkerl! Sie wollte in Wirklichkeit gar nicht, daß er für Nicky bezahlte – das würde wahrscheinlich nur Probleme geben, schließlich war das Kind offiziell Alex’ Tochter. Aber sie hatte seine Reaktion hören wollen, sie hatte eine Bestätigung für die Meinung gebraucht, die sie sich mittlerweile von Ben gebildet hatte. Diese Bestätigung hatte sie nun bekommen – er war sogar noch viel mieser, als sie ohnehin schon angenommen hatte.
Aber sie mußte auch an die Zukunft denken. Wenn sie geschieden war – konnte sie dann guten Gewissens Geld von Alex annehmen, das dieser ihr gar nicht bezahlen mußte? Nicky war schließlich nicht seine Tochter, auch wenn er vor der Welt als ihr Vater auftrat. Plötzlich wurde ihr bewußt, wie wenig sie bisher über diese Probleme nachgedacht hatte. Sie war so froh gewesen über Alex’ Angebot, sie zu heiraten. Alles andere würde sich schon finden, hatte sie damals gedacht.
Eilig schloß sie die Haustür auf. Ach was, ihr würde schon eine Lösung einfallen. Und bis zu dem Termin, den Alex und sie für ihre Scheidung festgesetzt hatten, war ja auch noch viel Zeit.
Sie legte Nicky auf das Sofa im Wohnzimmer, lief in die Küche, suchte ihren Einkaufszettel und griff zu zwei großen Taschen. Dann ging sie zum Fenster und studierte den Himmel. Die dunklen Wolken wollten sich einfach nicht verziehen. Immerhin regnete es gerade nicht, der Wind allerdings schien noch stärker geworden zu sein. Sie mußte sich beeilen mit ihren Einkäufen. Nicky konnte sie im Tragetuch mitnehmen, dann war sie beweglicher als mit dem großen Kinderwagen. Aber umständlich war es natürlich schon mit dem Kind, es würde länger dauern, als wenn sie allein losging.
Als es klingelte und sie gleich darauf Herrn Zapfmann vor sich sah, strahlte sie unwillkürlich. »Herr Zapfmann, Sie schickt mir der Himmel. Meinen Sie, Sie könnten eine halbe Stunde bei Nicky bleiben? Ich muß unbedingt einkaufen, und jetzt ist es zumindest gerade mal trocken. Aber kommen Sie doch herein und bleiben Sie nicht in dem Wind da draußen stehen. Wo haben Sie denn Cora gelassen?«
Karl Zapfmann strich sich die zerzausten Haare glatt. »Die geht bei dem Wetter nicht vor die Tür – nicht einmal mit mir. Komisch, nicht wahr? Sie ist sonst so eine couragierte Person, also eine couragierte Hündin, wollte ich sagen, aber lassen Sie nur ein bißchen Wind heulen, da verkriecht sie sich in eine Ecke und rührt sich nicht, bis alles vorüber ist.«
»Na, so was!« wunderte sich Jessica. »Das hätte ich gar nicht vermutet.«
»Nicht wahr? Aber so kann man sich täuschen. Kann ich Nicky mit nach drüben nehmen? Wegen Cora, meine ich. Oder meinen Sie, die Kleine fürchtet sich?«
»Bestimmt nicht, Herr Zapfmann. Sie kennt dieses Haus ja auch noch nicht. Und Sie haben doch gestern schon mit ihr Freundschaft geschlossen. Außerdem bleibe ich ja nicht lange weg. Ich muß nur dringend einen Großeinkauf machen. Soll ich Ihnen etwas mitbringen bei der Gelegenheit?«
»Butter, Milch und Brot!« antwortete Herr Zapfmann. »Das paßt ja großartig, Frau Stolberg. Ich wäre nämlich nicht gern losgegangen, muß ich sagen, ein bißchen wackelig auf den Beinen bin ich immer noch.«
»Gut. Warten Sie einen Augenblick. Ich hole nur das Geld und die Tasche, dann trage ich Nicky zu Ihnen rüber, ja?«
Kurz darauf verließen sie das Haus, und auf den wenigen Metern, die sie zurücklegen mußten, bis sie in Herrn Zapfmanns engem Flur standen, wurden sie bereits ordentlich durchgepustet.
»Du liebe Zeit!« japste Jessica völlig außer Atem. »Ich muß ja direkt aufpassen, daß ich nicht wegfliege.«
»Gehen Sie lieber schnell los!« riet ihr Nachbar besorgt. »Das gefällt mir nicht da draußen.«
»Ich bin ziemlich stabil«, versicherte Jessica. »Bis gleich, Herr Zapfmann. Tschüß, meine Süße!« Sie drückte ihrer Tochter einen Kuß auf die winzige Nase und verschwand.
*
»Das wird Arbeit geben heute«, meinte Dr. Julia Martensen zu Dr. Adrian Winter. »Ich ahne nichts Gutes.«
»Da könntest du leider recht haben«, erwiderte er seufzend. Sie hatten bereits zwei harte Stunden hinter sich und gönnten sich die erste Pause mit einer Tasse Kaffee, die sie stehend an einem Fenster einnahmen. Draußen war es so dunkel, daß man hätte denken können, es sei Abend und nicht mitten am Vormittag.
»Mal ganz abgesehen von den Unfällen, mit denen man rechnen muß, ist eine solche Wetterlage auch für Patienten mit Kreislaufproblemen Gift.«
Sie nickte. »Ich hoffe, die alte Dame, die wir auf die Innere geschickt haben, erholt sich bald. Fünfundachtzig Jahre – und geistig noch so fit! Wirklich beeindruckend. Aber wenn der Körper nicht mehr mitspielt, dann nützt dir dein wacher Geist auch nicht viel.«
»Sie kommt bestimmt schnell wieder auf die Beine«, erwiderte Adrian beruhigend. »Es war nichts Ernstes, Julia. Es sah schlimmer aus, als es ist.«
Monika Ullmann, die hübsche und tatkräftige Schwester, mit der sie oft zusammenarbeiteten, kam eilig auf sie zugelaufen. »Ein schwerer Verkehrsunfall ganz in unserer Nähe. Mindestens vier Verletzte, sie werden jeden Augenblick hier sein.«
Wie auf Kommando stellten Julia und Adrian ihre Kaffeetassen ab und folgten Schwester Monika. In Windeseile trafen sie Vorbereitungen für die erwarteten Patienten, als der erste auch schon gebracht