Freiburg. Dort hatte sie bisher gelebt, das wußte er bereits. Er beschloß, das Thema zu wechseln. Sie kannten einander noch nicht gut genug, um Probleme zu wälzen. Eine gute nachbarliche Beziehung mußte langsam wachsen, wie er aus eigener Erfahrung wußte.
Cora saß mit schiefgelegtem Kopf vor ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Er betrachtete das letzte Stückchen Pizza auf seinem Teller und sagte seufzend: »Na schön, Cora, weil du gestern Hilfe gerufen hast, als ich den Unfall hatte. Aber nur deshalb, verstanden? Sonst wird bei Tisch nicht gebettelt!«
Cora ließ ein langgezogenes Heulen hören, und er reichte ihr das Stück Pizza, das sie sofort schnappte und gierig verschlang.
Jessica lachte. »Sie ist so niedlich«, meinte sie. »Es kommt mir wirklich so vor, als verstünde sie jedes Wort, das Sie sagen.«
»Oh, das tut sie auch«, versicherte er. »Sie ist klug. Viel klüger als die meisten Menschen. Sagen Sie, Frau Stolberg, könnten Sie mir einen riesigen Gefallen tun?«
»Klar«, antwortete sie. »Wenn es mir möglich ist.«
»Es wird höchste Zeit, daß ich in die Klinik fahre«, sagte er. »Sonst schimpfen die Ärzte mit mir. Könnte ich Cora so lange bei Ihnen lassen? Sie ist nämlich nicht gern allein. Ich werde mit ihr reden, daß sie Ihnen nicht zur Last fallen darf. Sie wird ganz brav sein, das verspreche ich Ihnen – und ich bleibe ja auch nicht lange weg.«
»Ja, sicher können Sie sie hier lassen, sehr gern sogar. Aber was ist, wenn sie nicht bleiben will?«
»Oh, das wird sie«, versicherte Karl Zapfmann und wandte sich dem Dackel zu, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt zu sein schien.
»Sie weiß genau, daß wir über sie geredet haben, merken Sie das?«
Jessica nickte fasziniert.
»Hör zu, Cora! Ich fahre jetzt noch einmal in die Klinik, und du bleibst so lange hier bei Frau Stolberg und Nicky, hast du das gehört? Die beiden können ein bißchen Gesellschaft gebrauchen, und du hast es ja auch lieber, wenn jemand bei dir ist, nicht? Außerdem kann ich dich nicht mitnehmen ins Krankenhaus. Was meinst du?«
Cora ließ ein leises Jaulen hören, dann schlich sie zum Sofa, auf dem Nicky lag und schlief, legte sich davor und schloß die Augen.
Jessica lachte. »Ich glaub’s einfach nicht, Herr Zapfmann! Hat sie wirklich verstanden, was Sie ihr erzählt haben?«
»Vielleicht nicht jedes Wort«, meinte der alte Herr, »aber den Sinn auf jeden Fall.« Er stand auf und ging zur Tür. »Bis später, Frau Stolberg. Ich gehe dann mal rüber und rufe mir ein Taxi, Sie haben ja noch kein Telefon, nicht wahr?«
»Erst Ende der Woche«, erwiderte Jessica bedauernd.
»Und geben Sie Cora bitte nichts mehr zu fressen, sie kann gar keinen Hunger mehr haben. Höchstens etwas Wasser darf sie trinken.«
»Keine Sorge«, erklärte Jessica. »Wir werden schon miteinander auskommen. Alles Gute in der Klinik!« Sie blickte ihm nach, wie er zu seinem Haus hinüberging, und schloß dann lächelnd die Haustür.
Wenige Minuten später fuhr draußen ein Taxi vor, und sie sah Herrn Zapfmann einsteigen. Lächelnd wandte er sich an Cora. »Wir haben viel Glück gehabt mit unserem neuen Nachbarn«, stellte sie fest. »Er ist ein ganz besonders netter Mann, Cora, wirklich. Und du bist, glaube ich, auch ein ganz besonderer Dackel.«
Cora hob kurz den Kopf und sah sie aus ihren klugen Augen an. Ihr kleiner Stummelschwanz schlug heftig auf den Boden. Dann ließ sie den Kopf wieder auf die Vorderpfoten sinken.
»Ich sehe, wir sind uns einig«, stellte Jessica fest. Sie vergewisserte sich, daß Nicky noch immer selig schlief, dann machte sie sich daran, weitere Kisten auszuräumen. Dieser Tag war bisher viel angenehmer verlaufen, als sie befürchtet hatte.
*
»In der Notaufnahme hatten wir Sie eigentlich nicht erwartet, Herr Zapfmann«, sagte Dr. Adrian Winter amüsiert. »Sie sollten sich oben auf der Station melden, damit meine Kollegen Sie noch einmal untersuchen können.«
»Ich komme aber lieber zu Ihnen«, erklärte der alte Herr ungerührt. »Da oben gefällt es mir nicht. Und Sie sind doch auch Arzt, da können Sie mich genausogut untersuchen wie Ihre Kollegen – oder etwa nicht?«
»Das kann ich schon, aber eigentlich sind wir hier eine Notaufnahme und für Fälle wie den Ihren gar nicht zuständig.«
»Gestern war ich auch hier.« Karl Zapfmann konnte sich hervorragend dumm stellen, wenn er sein Ziel erreichen wollte.
Adrian mußte sich schon wieder ein Lachen verkneifen. »Gestern waren Sie auch ein Notfall, Herr Zapfmann. Nun kommen Sie schon mit mir. Sie haben Glück, daß es bei uns ausnahmsweise etwas ruhiger zugeht als sonst.«
»Ich hätte auch gewartet«, verkündete der eigenwillige Patient. »Ich hab’s nicht besonders eilig.«
»Und wieso das nicht? Was ist mit Ihrem Hund? Cora – oder wie heißt sie noch?«
»Sie haben sich sogar ihren Namen gemerkt«, staunte Karl Zapfmann. »Ich habe neue Nachbarn – ein ganz junges Paar mit einem Baby. Den Mann kenne ich noch gar nicht, aber die Frau ist eine reizende Person. Ich habe auf ihr Baby aufgepaßt heute, und sie hat dafür Cora bei sich behalten, bis ich zurückkomme. Deshalb habe ich Zeit.«
»Soso«, sagte Adrian und begann, den Patienten zu untersuchen. Die Kopfwunde schien gut zu verheilen, und auch die verstauchte Hand bereitete Herrn Zapfmann offenbar keine großen Probleme. Er stellte ihm noch einige Fragen und nickte schließlich zufrieden. »Ich denke, Sie dürfen wieder nach Hause gehen. Soweit ist alles in Ordnung. Ich werde den Kollegen auf der Station Bescheid sagen, daß Sie hier gewesen sind, Herr Zapfmann.«
»Danke, Herr Dr. Winter. Bis morgen. Oder reicht das jetzt? Muß ich vielleicht gar nicht mehr wiederkommen?«
»O doch, Herr Zapfmann, und morgen gehen Sie bitte zu den Kollegen, wie abgesprochen.«
»Das kann ich nicht«, versicherte Karl Zapfmann treuherzig. »Wenn Sie das von mir verlangen, Herr Doktor, dann kommt mir morgen garantiert etwas ganz Wichtiges dazwischen.«
»Raus hier!« rief Adrian gespielt streng, aber seine Augen lachten dabei, und zufrieden lief der alte Herr zum Ausgang.
»Habe ich richtig gehört? Du hast eben einen ziemlich alten Patienten ’rausgeschmissen?« fragte Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer vorwurfsvoll. Bernd Schäfer hatte seit ein paar Tagen wieder einmal den Kampf gegen seine zahlreichen überschüssigen Pfunde aufgenommen, und er war deshalb in grämlicher Stimmung. Jeglicher Sinn für Humor schien ihm abhanden gekommen zu sein.
»Ja, aber wohlgemerkt erst, nachdem ich ihn untersucht hatte, Bernd, obwohl er sich eigentlich auf der Inneren hätte melden sollen, die er gestern auf eigenen Wunsch verlassen hat. Das war Herr Zapfmann – der Rentner mit dem Fahrradunfall von gestern. Ach so, das weißt du ja gar nicht, du hattest keinen Dienst.«
»Am liebsten wäre es mir, ich hätte heute auch keinen«, murrte Bernd. »Mir ist richtig schlecht vor Hunger, ich fühle mich gar nicht gut.«
Adrian sah ihn mitleidig an. »Mußt du denn mit allem übertreiben, Bernd? Du könntest doch insgesamt etwas weniger essen, nicht wahr? Oder du könntest mit deinem Gewicht leben – wir alle mögen dich so, wie du bist.«
»Ich mag mich so aber nicht!« Bernds Gesicht wurde immer grimmiger. »Und die Frauen mögen mich so auch nicht, das weißt du ganz genau!«
Adrian unterdrückte einen Seufzer. Bernd und die Frauen – das war ein Kapitel für sich. Er selbst war allerdings davon überzeugt, daß Bernds Erfolglosigkeit eher in seiner Schüchternheit begründet lag als in seiner Körperfülle. »Denk an Marlon Brando!« wandte er ein. »Den lieben die Frauen, ob er nun dünn ist oder dick. Das hat doch damit gar nichts zu tun.«
»Marlon Brando hat alle Frauen gehabt, die er wollte«, entgegnete Bernd mit düsterem Blick. »Außerdem bin ich nicht Marlon Brando.«
Dagegen