daran angenehm? Der arme Mann war doch sicher verletzt?«
»Natürlich«, gab Adrian zu. »Er sollte ein paar Tage bei uns bleiben, zur Vorsicht, weil er eben schon ziemlich alt ist.«
»Und?« erkundigte sich Frau Senftleben aufmerksam, während sie die Reste des köstlich duftenden Rinderbratens aus dem Backofen holte. Sie liebte es, wenn ihr Nachbar ihr von seiner Arbeit erzählte – so wie er es liebte, bei ihr in der Küche zu sitzen. Carola Senftleben war eine sehr selbständige, ungewöhnliche ältere Dame von sechsundsechzig Jahren, die am Leben Ihres Nachbarn regen Anteil nahm, wobei sie aber stets genügend Distanz wahrte, die ihr auch selbst sehr wichtig war.
»Er wollte nicht«, erzählte
Adrian. »Er wollte unbedingt nach Hause. Und wissen Sie, Frau Senftleben, was er gemacht hat, um zu erreichen, daß er entlassen wird? Er hat den jungen Kollegen, der Dienst hatte, unablässig auf Trab gehalten, weil er dachte, der entläßt ihn, wenn er ihm nur genug auf die Nerven geht.« Adrian lachte bei der Erinnerung an sein Gespräch mit Karl Zapfmann.
»Warum wollte er denn unbedingt nach Hause?« erkundigte sich Frau Senftleben stirnrunzelnd, während sie das Essen appetitlich auf dem Tisch anrichtete.
»Wegen seiner Hündin. Er hat mir erklärt, daß sie die Welt nicht mehr versteht, wenn er nicht nach Hause kommt. Schließlich habe ich nachgegeben und mich für seine vorzeitige Entlassung eingesetzt. Sie hätten sehen sollen, wie glückstrahlend er sich in das Taxi gesetzt hat, das wir für ihn gerufen haben.«
»Greifen Sie zu, Adrian!« ermahnte ihn seine Nachbarin.
Das ließ Adrian sich nicht zweimal sagen, er war ausgesprochen hungrig, und er wußte ja, wie gut seine Nachbarin kochte.
Frau Senftleben fuhr fort: »Und was wird jetzt aus dem Mann? Wenn es ihm zum Beispiel doch schlechter geht, als er zunächst dachte?«
Adrian schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß man sich um ihn Sorgen machen muß. Es war eher eine Vorsichtsmaßnahme, ihn noch zur Beobachtung dazubehalten. Er wird zurechtkommen, da bin ich sicher. Außerdem habe ich ihn dazu verdonnert, sich in den nächsten Tagen zur Kontrolle in der Klinik blicken zu lassen, bis wirklich kein Zweifel mehr daran bestehen kann, daß er völlig wiederhergestellt ist.«
»Es wäre sicher auch nicht gut für ihn gewesen, wenn er ständig an seine Hündin gedacht hätte«, meinte Frau Senftleben nachdenklich.
»Genau das habe ich mir auch gesagt.« Er lächelte seine Nachbarin strahlend an. »Sie denken wie ich, Frau Senftleben. Übrigens, habe ich Ihnen schon gesagt, daß dieser Rinderbraten ganz wunderbar schmeckt?«
»Gesagt haben Sie es heute noch nicht«, erwiderte sie trokken. »Aber gestern. Außerdem merke ich es an Ihrem regen Appetit und freue mich sehr darüber.«
Adrian spielte den Zerknirschten. »Ich esse immer zuviel, wenn ich bei Ihnen bin, Frau Senftleben.«
»Ich wäre beleidigt, Adrian, wenn es anders wäre! Haben Sie heute etwas von Ihrer Schwester gehört?«
Adrian schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat wieder mal viel um die Ohren.«
Frau Senftleben nickte. So war das eben, wenn man jung war – und nicht nur dann. Sie hatte viel Verständnis für Leute, die ›viel um die Ohren‹ hatten, schließlich war es bei ihr selbst nicht anders, obwohl sie sich unaufhaltsam den Siebzig näherte. Langeweile war für sie ein Fremdwort, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich darüber zu beschweren, daß sie älter wurde und nicht mehr so viel unternehmen konnte wie früher. Sie war äußerst aktiv und neugierig auf das Leben, und das war es wohl auch, was Adrian so an ihr gefiel.
Sie aßen schweigend weiter. Auch das war etwas, was sie beide aneinander zu schätzen wußten. Sie mußten nicht immer reden, wenn sie zusammen waren. Das Schweigen zwischen ihnen hing nicht lastend im Raum, sondern es war eine friedliche Stille, die ihnen beiden angenehm war.
Schließlich lehnte sich Adrian zurück und sagte: »Mehr geht einfach nicht ’rein, Frau Senftleben. Beim besten Willen nicht, obwohl ich es sehr bedaure.«
Sie lächelte und schenkte ihm noch ein Glas Wein ein. »Dann trinken wir auf den angenehmen Tag mit Ihrem Rentner, der nach Hause zu seinem Dackel wollte!«
Sie lachten beide, und der angenehme Tag fand einen ebenso angenehmen Abschluß.
*
Alexander hatte das Haus an diesem Morgen schon sehr früh verlassen, und nun stand Jessica mit ihrer Tochter auf dem Arm inmitten von unausgepackten Umzugskisten und Gegenständen, die ihren Platz im Haus noch nicht gefunden hatten. Sie machte ein ratloses Gesicht. Wo sollte sie bloß anfangen?«
Gestern abend hatte sie noch gedacht, sie würde an diesem Tag sicher ein großes Stück weiterkommen, aber jetzt erschien es ihr so viel, was es noch zu tun gab, daß sie kurz davor war zu verzagen. Wenn sie nur nicht ganz allein gewesen wäre! Denn Nicky verlangte auch nach ihrer Aufmerksamkeit, und sie konnte das Kind nicht einfach schlafen legen, wenn es wach und munter war und unterhalten werden wollte.
Während sie noch darüber nachdachte, womit sie am besten anfangen und wie sie ihre Tochter beschäftigen sollte, ohne sich ständig um sie zu kümmern, klingelte es an der Haustür. Das kam so unerwartet, daß sie förmlich zusammenfuhr. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg zur Treppe, lief hinunter und öffnete.
Sofort erkannte sie den alten Herrn mit dem Dackel, der ein paarmal bellte, als er sie und Nicky sah. Es war ihr Nachbar aus dem Hexenhaus.
»Sei ruhig, Cora!« sagte er streng. »Das sind unsere neuen Nachbarn, das habe ich dir doch schon erklärt.«
Tatsächlich war der Dackel sofort still, ließ aber Jessica und ihre Tochter nicht aus den Augen.
»Guten Morgen, ich bin Karl Zapfmann und wohne in dem Haus neben Ihnen«, erklärte der alte Herr freundlich. »Und diese vorwitzige junge Dame da unten ist Cora. Sie muß sich erst an Sie gewöhnen, aber ich bin sicher, Sie werden sich bald mit ihr anfreunden. Am Anfang fremdelt sie immer ein bißchen.«
Er zwinkerte ein wenig, und Jessica lächelte unwillkürlich.
»Ich wollte mich nur gleich mit Ihnen bekannt machen«, fuhr ihr Nachbar fort, »und Ihnen sagen, wie froh ich bin, daß das Haus endlich wieder bewohnt ist. Und ganz besonders freue ich mich, daß es sich um junge Leute handelt, die eingezogen sind. Hier wohnen nämlich viel zu viele Alte, wissen Sie!«
Er lächelte verschmitzt, und auf einmal fühlte sich Jessica viel besser. »Kommen Sie bitte herein, Herr Zapfmann«, sagte sie. »Ich bin Jessica Stolberg, und das ist meine Tochter Nicole. Wir sagen immer Nicky zu ihr.«
»Guten Tag, Nicky«, meinte Karl Zapfmann freundlich und kitzelte das Baby ein bißchen unter dem Kinn. Nicky schenkte ihm dafür ein strahlendes zahnloses Lächeln.
»Was für ein aufgeschlossenes Baby!« sagte er entzückt. »Wir wollen Sie aber nicht stören, Frau Stolberg. Sie haben ja sicher jede Menge zu tun.«
»Das ist gerade mein Problem«, gestand Jessica. »Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, und Nicky ist so munter, sie will unterhalten werden, da kann ich sie ja nicht einfach wieder hinlegen und Kisten auspacken.«
»Das sehe ich ein«, meinte Karl Zapfmann. »Vielleicht kann ich Ihnen sogar etwas helfen. Anstrengen darf ich mich allerdings nicht, ich hatte gestern nämlich einen Unfall.«
Er folgte Jessica ins Haus und erzählte ihr in wenigen Worten, was sich am Vortage ereignet hatte.
»Wir haben uns schon gedacht, daß etwas passiert sei«, meinte Jessica, als er seinen Bericht beendet hatte. »Es war ja ein richtiger Auflauf auf der Straße, als Sie zurückgekommen sind, Herr Zapfmann.«
»Ja, wir hängen hier alle sehr aneinander«, erklärte er schmunzelnd. »Wissen Sie was, Frau Stolberg? Ich setze mich da in den Sessel, Sie geben mir Ihre Tochter, die mich ja offenbar schon ins Herz geschlossen hat – und dann können Sie räumen, soviel Sie wollen. Was halten Sie davon?«
»Das