Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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Zapfmann sah zum Himmel und fragte sich, ob er wohl auf seiner Terrasse würde frühstücken können. Für diesen Morgen war Regen angekündigt worden – aber vielleicht klappte es ja noch.

      Cora lief jetzt immer schneller – allerdings in eine Seitenstraße und keineswegs nach Hause – und er beschloß, nun doch durchzugreifen. Er durfte sie nicht allzu sehr verwöhnen und ihr alles durchgehen lassen. »Cora!« rief er energisch und zog die Leine kürzer. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich nicht so schnell kann! Hast du das nicht gehört?« Er blieb stehen, und notgedrungen tat Cora es ihm gleich.

      In diesem Augenblick kam ein Radfahrer um die Ecke geschossen, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, zu dieser frühen Stunde in einer ruhigen Wohnstraße von Berlin-Pankow schon jemandem zu begegnen. Er sah Herrchen und Hund erst in letzter Sekunde und versuchte noch auszuweichen, jedoch vergebens, denn er hatte die Leine zwischen beiden übersehen. Er verlor die Kontrolle über sein Rad und stellte sich zu allem Unglück auch noch äußerst ungeschickt an. Er riß also nicht nur Karl Zapfmann von den Beinen, sondern flog auch selbst in hohem Bogen vom Rad.

      Laut aufjaulend rannte Cora auf ihr Herrchen zu und leckte ihm das Gesicht. Doch er sagte nichts, sondern stöhnte nur, so benommen war er. Und so lief sie zu dem anderen Mann, der ebenfalls stöhnend auf dem Asphalt lag. Aber auch dieser reagierte nicht auf ihre laut gebellte Aufforderung, schnellstens aufzustehen und sich um ihr Herrchen zu kümmern. Noch ein paarmal lief Cora jaulend und winselnd zwischen den beiden Männern hin und her, dann beschloß sie, Hilfe herbeizubellen.

      Und so kam es, daß es in dieser sonst so ruhigen Wohnstraße Berlins an diesem Morgen ausgesprochen unruhig zuging.

      *

      »Könnte es sein, Adrian, daß du noch nicht ganz ausgeschlafen bist?« erkundigte sich die Internistin Dr. Julia Martensen bei ihrem herzhaft gähnenden Kollegen, dem Unfallchirurgen Dr. Adrian Winter.

      Dr. Winter leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin, und Julia Martensen hatte nach längerer Zeit wieder einmal Dienst dort. Meistens arbeitete sie auf der Inneren Station. Sie freute sich auf die Zeit in der Notaufnahme, denn sie arbeitete gern mit Adrian zusammen. Er war viel jünger als sie, und um so mehr bewunderte sie seine Ruhe und Gelassenheit, die er vor allem im Umgang mit Patienten nie verlor. Sie selbst war sehr offen und sagte ihre Meinung immer ziemlich deutlich, was nicht jeder gut vertragen konnte, doch mit Adrian hatte sie deshalb noch nie Probleme gehabt. Er konnte auch mit Kritik gut umgehen, wenn sie ihm einleuchtend erschien.

      Er war ein gutaussehender Mann von Mitte Dreißig, während sie selbst sich den Fünfzig näherte. Der Altersunterschied zwischen ihnen hatte ein gutes kollegiales, sogar freundschaftliches Verhältnis nicht verhindern können. Sie wußte das sehr zu schätzen, denn in anderen Abteilungen gab es durchaus Streit und Unstimmigkeiten, die sich negativ auf die Arbeit auswirkten.

      »Esther war noch da gestern abend«, antwortete Adrian auf ihre Frage. »Frau Senftleben hatte uns beide zum Essen eingeladen, und du weißt ja, daß die Frau am liebsten die Nacht zum Tage machen würde. Je später es wird, desto munterer wird sie. Und ich habe völlig vergessen, auf die Uhr zu sehen, weil wir uns ausgesprochen gut unterhalten haben. Außerdem hatte sie wieder einmal einen hervorragenden Rotwein.« Er lächelte vielsagend.

      Julia erwiderte sein Lächeln. Sie konnte sich den Verlauf des Abends lebhaft vorstellen. Esther war Adrians Zwillingsschwester, die ebenfalls Medizin studiert hatte – sie arbeitete als Kinderärztin an der Charité. Sie war viel quirliger und temperamentvoller als ihr ruhiger Bruder, und sie hatte sicherlich eine Menge zu erzählen gehabt, denn die beiden sahen sich nicht allzu oft. Ihr anstrengendes Berufsleben ließ das einfach nicht zu.

      Frau Senftleben war Adrians Nachbarin, eine sehr interessante und liebenswürdige ältere Dame, die für ihr Leben gern kochte.

      Adrian aß öfter bei ihr als bei sich zu Hause – und diese Regelung war ihnen beiden nur allzu recht. Carola Senftleben aß lieber in Gesellschaft, und das galt auch für Adrian. Außerdem kochte er nicht besonders gern, aber er liebte die Küche seiner Nachbarin…

      »Ich habe also einfach zu wenig geschlafen, mehr gegessen als nötig und wahrscheinlich zwei Gläser Rotwein zuviel getrunken«, stellte Adrian fest. »Aber da ich außerordentlich gut gelaunt ins Bett gegangen bin, geht es mir heute morgen nicht besonders schlecht. Die Müdigkeit verfliegt sicher, sobald hier die übliche Hektik ausgebrochen ist.«

      Wie aufs Stichwort erschien Schwester Monika und rief: »Wir bekommen Arbeit! Ein alter Mann ist von einem Radfahrer angefahren worden, beide sind verletzt. Sie werden jeden Augenblick hier sein.«

      »Der Radfahrer ist auch verletzt?« vergewisserte sich Adrian, während er bereits mit Julia zu einer der Notfallkabinen lief, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

      »Ja, er hat den alten Mann zuerst umgefahren und ist dann auch selbst noch in hohem Bogen auf die Straße geflogen. Er muß ziemlich schnell gefahren sein. Außerdem hatte der alte Mann einen Hund bei sich, und der Radfahrer hat die Leine nicht gesehen…«

      »Als gäbe es nicht ohnehin schon genug Unfälle«, seufzte

      Adrian. »Da müssen die Leute auch noch unvernünftig und unachtsam sein. Hoffentlich sind die Verletzungen nicht so schlimm.«

      Die Türen der Notaufnahme wurden aufgestoßen, und zwei Sanitäter brachten im Laufschritt einen älteren Mann herein, der sehr blaß war, aber die Augen geöffnet hielt. »Das ist Karl Zapfmann, der von dem Radfahrer umgefahren worden ist«, berichtete einer der Männer. »Er ist fünfundsiebzig Jahre alt, hat eine Kopfverletzung, Prellungen und Schürfwunden – und eine Hand ist verstaucht, vielleicht auch gebrochen. Wir bringen jetzt noch den Radfahrer, der hat eine leichte Gehirnerschütterung.«

      »Wo ist Cora?« fragte der Patient leise. »Bitte, ich muß wissen, wo sie ist!«

      Fragend sah Adrian auf die beiden Sanitäter, die sich bereits wieder zum Gehen gewandt hatten. »Cora ist sein Dackel, der so lange gebellt hat, bis jemand Hilfe geholt hat. Er kann von Glück sagen, daß das Tier keine Ruhe gegeben hat. Um die Zeit schlafen viele Leute noch. Das hätte ganz schön lange dauern können, bis ihn jemand gefunden hätte.«

      »Und wo ist der Hund jetzt?« fragte Adrian.

      »Bei einem von den Nachbarn. Die haben sofort gesagt, sie kümmern sich um ihn, bis Herr Zapfmann wieder nach Hause kommt.«

      »Haben Sie das gehört, Herr Zapfmann?« fragte Adrian. »Sie müssen sich um Ihren Dackel keine Sorgen machen. Er ist bei Ihren Nachbarn gut untergebracht.«

      Der alte Mann sagte nichts mehr, aber Adrian hatte nicht den Eindruck, daß er wirklich beruhigt war.

      Julia Martensen hatte bereits angefangen, den Patienten zu untersuchen. Vorsichtig hatte sie seinen Bauch abgetastet, und jetzt untersuchte sie die Prellungen und Schürfwunden an seinen Armen, während Adrian die Kopfwunde näher betrachtete.

      »Die muß genäht werden«, stellte er fest. »Und zur Vorsicht möchte ich, daß wir Ihren Kopf röntgen lassen, Herr Zapfmann. Es kann sein, daß Sie eine leichte Gehirnerschütterung haben, dann müssen Sie ein paar Tage das Bett hüten.«

      »Aber…«, begann der Patient, doch Adrian unterbrach ihn mit seinem freundlichsten Lächeln.

      »Kein ›aber‹, Herr Zapfmann. Wir sind für Ihre Gesundheit verantwortlich. Wenn wir nicht alles tun, um Ihnen zu helfen, machen wir uns strafbar. Zunächst einmal untersuchen und behandeln wir Sie – und danach denken wir über Cora nach und darüber, ob sie es ohne Sie aushalten kann. In Ordnung?«

      Das Lächeln auf Karl Zapfmanns Gesicht war breit und so hell wie die aufgehende Sonne. Dieser junge Arzt war genau richtig, er hatte sofort verstanden, worum er sich Sorgen machte. »In Ordnung, Chef!« sagte er.

      Adrian und Julia wechselten einen amüsierten Blick und setzten ihre Arbeit fort, bis der junge Mann hereingebracht wurde, der für den Unfall verantwortlich war.

      »Till Kröger, neunzehn Jahre«, sagte einer der Sanitäter. »Kaum sichtbare Verletzungen, aber