fahren. Julia ließ Adrian mit Karl Zapfmann allein und kümmerte sich um den neuen Patienten. Er war sehr blaß, sehr still und klagte über heftige Kopfschmerzen.
»Ich fahre mit ihm zum Röntgen, Adrian«, erklärte sie. »Oder brauchst du mich im Augenblick?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich komme gut klar.«
Sie schob die Liege mit dem jungen Mann zum Aufzug und verschwand, während Adrian vorsichtig die Wunde an Karl Zapfmanns Kopf behandelte. Seine Müdigkeit war verflogen, genau wie er es vorhergesehen hatte. Jetzt dachte er an nichts anderes mehr als an seine Arbeit in der Notaufnahme.
*
Jessica Stolberg fühlte sich überfordert damit, gleichzeitig die Männer der Umzugsfirma mit den Möbeln in die richtigen Zimmer zu dirigieren und auf ihre kleine Tochter Nicole aufzupassen, die erst drei Monate alt war, aber sie tat ihr Bestes. Wenn Alexander nach seinem allerersten Arbeitstag in Berlin abends nach Hause kam, dann wollte er natürlich nicht, daß überall noch großes Chaos herrschte, aber sie wußte beim besten Willen nicht, wie sie bis dahin auch nur einigermaßen Ordnung schaffen sollte.
Sie hatten nicht früher umziehen können, obwohl es besser gewesen wäre, weil Alex seine Stelle antreten mußte. Doch die Vormieter waren zu spät ausgezogen, und dann hatten die Renovierungsarbeiten länger gedauert als geplant, so daß sich zum Schluß die Termine wirklich gedrängt hatten. Zu guter Letzt war nun also Alex’ erster Arbeitstag zugleich auch ihr Umzugstag – das nannte man schlechte Planung, aber es war einfach nicht zu ändern gewesen.
Jessica kannte niemanden in Berlin, und deshalb mußte sie den Umzug auch allein bewältigen – natürlich nicht ganz allein, denn sie hatten ja eine Firma beauftragt, also mußte sie nichts selbst schleppen. Aber sie allein war dafür verantwortlich, daß später alles an der richtigen Stelle stand. Außer den Männern von der Speditionsfirma war niemand da, der ihr geholfen hätte.
Ja, wenn sie noch in Freiburg gewesen wäre, wo alle ihre Freundinnen und Freunde lebten – da wäre der Umzug zu einem richtigen Fest umgestaltet worden. Aber Freiburg war weit weg, und ihr früheres Leben war es auch. Jetzt war sie eine verheiratete Frau von vierundzwanzig Jahren mit einer kleinen Tochter, und ihre Zukunft lag nicht länger verheißungsvoll vor ihr, sondern eher wie eine dumpfe Bedrohung. Unwillig über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich düsteren Gedanken hinzugeben.
»Halt!« rief sie. »Das Bett bitte in dieses Zimmer!«
»Aber ich dachte, das Schlafzimmer ist dort!« sagte einer der kräftigen Männer, die gerade die Treppe heraufgekeucht waren, verwundert.
»Eines der Schlafzimmer«, erwiderte Jessica kurz angebunden. »Hierher bitte. Ja, ganz da an die Wand. Genauso.«
Von unten drang leises Gegreine nach oben, und sie rannte die Treppe hinunter. »Nicky, was ist denn los?« flüsterte sie. »Nun wein doch nicht schon wieder. Ich weiß ja, daß es heute ein bißchen ungemütlich ist, aber du wirst sehen, wie schön wir es bald haben werden.«
Das Kind beruhigte sich sofort, und sie nahm es auf den Arm. Sacht schaukelte sie es hin und her und ging mit ihm zu einem der Fenster. »Guck doch mal, wie schön es hier ist«, sagte sie. »Eine ganz ruhige Straße mit lauter kleinen Häusern – man glaubt gar nicht, daß wir hier in einer riesengroßen Stadt sind. Und hier ist
alles grün, siehst du das? Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir!«
Die kleine Nicole hörte ihr aufmerksam zu und gab leise Schmatzgeräusche von sich. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.
»Wohin kommt der Tisch, junge Frau?« erkundigte sich einer der Möbelpacker.
Schweigend wies sie auf das große Wohnzimmer, vor dem sie standen, und er grinste erleichtert, daß sein Kollege und er nicht schon wieder die enge Treppe hochsteigen mußten. »Eine Stunde noch, dann sind wir fertig, schätze ich«, sagte er.
Sie nickte erfreut. Sie sehnte sich danach, allein zu sein mit ihrer kleinen Tochter und ganz in Ruhe durch dieses Haus zu laufen, in dem sie die nächsten zwei Jahre wohnen würde. Zwei Jahre Schonfrist, dachte sie. Und was mache ich dann?
Sie entdeckte einige ältere Leute auf der Straße, die zusammenstanden und über etwas diskutierten, das sie offenbar sehr aufregte. Einer der Männer wies zu einer Ecke und beschrieb mit den Armen eine Kurve bis zu der Stelle, an der er jetzt stand.
Sie fragte sich, was die Leute wohl so erregte, aber zugleich beruhigte es sie, ihnen zuzusehen. Hier ist es auch nicht anders als in Freiburg, dachte sie. Vielleicht habe ich Glück, und die Nachbarn sind nett. Vielleicht wohnt sogar irgendwo eine junge Frau, mit der ich mich anfreunden kann. Das wäre schön.
Jessica sah fast aus wie ein
Teenager, wie sie da am Fenster stand. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, wodurch ihre niedliche Stupsnase noch betont wurde, aber es waren die dunkelblauen Augen, die das feine Gesicht beherrschten. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, was ihr bei ihrer schmalen Figur gut stand und viel dazu beitrug, daß sie ganz besonders jung wirkte.
Sie wußte nicht, daß die Leute auf der Straße bereits auf sie aufmerksam geworden waren und sich Gedanken darüber machten, wieso dieses junge Mädchen und das Baby mit den Leuten von der Umzugsfirma ganz allein waren. Wo mochten nur die Eltern sein? Niemand kam auf die Idee, daß ›das junge Mädchen‹ selbst bereits verheiratet und Mutter war.
Jessica betrachtete aufmerksam das Nachbarhaus zur linken. Es gefiel ihr. Es hatte offenbar vor kurzem einen neuen weißen Anstrich bekommen und erinnerte sie an ein kleines Hexenhaus mit seinen blau angestrichenen Fensterläden und dem üppig wuchernden Garten. Der Zaun wies etliche schadhafte Stellen auf, aber sonst war alles äußerst gepflegt und in Ordnung.
Langsam wanderte sie durch den Raum und blickte durch das Fenster auf die gegenüberliegenden Seite. Ihr rechtes Nachbarhaus gefiel ihr weit weniger. Es war von einer sterilen Rasenfläche umgeben, im Garten blühte nichts, es gab nur einige düstere, immergrüne Pflanzen, deren Namen sie nicht kannte, die sie aber sofort mit Friedhöfen in Verbindung brachte.
Sie ertappte sich dabei, daß sie sich die Bewohner der beiden Häuser vorstellte, und sie hoffte sehr, daß die ersehnte junge Frau aus der Nachbarschaft, mit der sie sich anfreunden wollte, in dem weißen Hexenhaus mit den blauen Fensterläden wohnte.
*
»Na, Herr Stolberg, zufrieden mit dem ersten Tag?« fragte Mathias Grüner, Alexander Stolbergs neuer Chef bei der Messegesellschaft.
»Sehr zufrieden, Herr Grüner. Es war ein bißchen viel auf einmal, aber das ist ja normal am ersten Tag, nicht wahr?«
»Sicher. Alles andere wäre ein Wunder.«
»Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß mich hier sehr interessante Aufgaben erwarten.«
»Das freut mich, Herr Stolberg. Sie wissen, daß wir große Erwartungen in Sie setzen. Wir brauchen junge Leute wie Sie, die unsere Gesellschaft durch frische neue Ideen voranbringen.«
»Ich werde alles versuchen, um Sie nicht zu enttäuschen, Herr Grüner.«
Der andere lächelte. Der junge Mann gefiel ihm. Wenn er seine Erwartungen erfüllen sollte, konnte viel aus ihm werden. »Haben Sie sich denn schon ein wenig eingelebt in Berlin?«
Alexander verzog das Gesicht und lachte dann. »Eingelebt ist gut. Unser Umzug ist heute – aus verschiedenen Gründen hat es nicht vorher geklappt. Man muß also sagen, schlechter hätte es gar nicht anfangen können. Ich habe das Wochenende in einer Pension verbracht und gehe heute abend zum ersten Mal nach Hause. Zumindest hoffe ich das. Ich hatte noch nicht den Mut, bei der Umzugsfirma anzurufen und zu fragen, ob wenigstens heute alles geklappt hat. Wenn nicht, dann wollte ich es lieber erst nach meinem ersten Arbeitstag erfahren. Meine Frau konnte ich gar nicht erreichen, denn natürlich haben wir auch noch kein Telefon.«
»Du lieber Himmel!« rief sein Chef entsetzt. »Davon wußte ich ja gar nichts. Warum haben Sie denn nichts gesagt? Wir hätten