»In der Kurfürsten-Klinik in Berlin hat man mir gesagt, daß ich mich dringend einem Eingriff unterziehen muß. Und Dr. Winter – das ist der Arzt, der mich behandelt hat – war auch bereit, noch einmal ausführlich mit mir zu reden. Aber ich bin einfach davongelaufen.«
Sie biß sich auf die Lippen, und es dauerte eine geraume Weile, ehe sie weitersprechen konnte. »Wissen Sie, ich liebe einen ganz wundervollen Mann. Und die Vorstellung, ihn an eine Schwerkranke zu binden, war mir unerträglich. Außerdem… alles, was mir wichtig war bisher, drohte zusammenzubrechen. Ich, deren Kapital die Schönheit war, bin krank. Todkrank. Und wenn ich erst operiert sein würde, könnte ich nie wieder vor eine Kamera treten. Und dann mein Freund…«
Bei der Erinnerung an Mathias begann sie wieder hemmungslos zu weinen. Aus tränenfeuchten Augen sah sie den Hotelarzt an. »Ich muß zu ihm! Ich muß nach Berlin – unbedingt! Das verstehen Sie doch, oder?«
Der Arzt nickte. Er wußte, daß es keinen Sinn haben würde, an Verena Merbolds Vernunft zu appellieren. Und irgendwie konnte er sie ja auch verstehen. Darum war er bereit, ihr nach besten Kräften zu helfen.
»Ich werde Ihnen jetzt noch ein Präparat zur Stärkung geben«, sagte er. »Dann schlafen Sie ein paar Stunden – und ich werde einen Freund bitten, Sie nach Berlin zu fahren.«
»Aber das kann ich doch nicht annehmen!«
Der Arzt lächelte. »Wenn ich es sage, können Sie es annehmen. Ulrich ist zur Zeit arbeitslos und froh über jeden Job, den er bekommen kann. Er wird Sie gern bringen.«
»Ich werde ihn natürlich bezahlen«, sagte Verena rasch.
Der Arzt winkte ab. »Das ist das geringste Problem, denke ich. Also, jetzt bekommen Sie noch eine Injektion, und in fünf Stunden sehen wir uns wieder. Ich werde mitkommen, um darauf zu achten, daß alles so verläuft wie besprochen.«
Verena nickte. Sie war ihm dankbar für seine Umsicht. Und sie spürte selbst, daß sie im Moment gar nicht in der Lage gewesen wäre, irgend etwas selbständig zu tun. Noch nicht einmal etwas zu organisieren. Sie war wie gelähmt. Schwach. Elend. Am Ende…
Die Injektion wirkte rasch, und als Verena schlief, schlich der Arzt leise hinaus.
Doch noch vom Hotel aus ließ er sich eine Verbindung mit der Kurfürsten-Klinik in Berlin geben…
*
»Hallo, Adrian! Hattest du ein erholsames Wochenende?«
Schwester Monika begrüßte den Chef der Notaufnahme im Vorübergehen.
»Danke. Und wie war’s hier?«
»Hektisch.« Monika blieb nun doch kurz stehen. »Ein Rockkonzert hat uns irrsinnig viele Kunden beschert. Betrunkene, Vollgekiffte, vom Kreischen ohnmächtig gewordene Girlies… ehrlich, da könnte ich reinschlagen!«
Dr. Winter nickte. Er hatte solche Großverstanstaltungen ebenfalls fürchten gelernt, und er war froh um jede Band, die ihre Fans dazu anhielt, sich vernünftig zu benehmen.
»Besondere Fälle?« erkundigte er sich weiter.
»Nein, Herr Kehlmann liegt immer noch auf Intensiv, aber ich weiß von den Kolleginnen dort, daß sein Zustand stabil ist.«
»Ich werde gleich mal hochgehen.«
Monika schüttelte den Kopf. »Wirst du nicht. Gleich kommt eine neue Patientin. Ein schwerer Fall, wie ich gehört habe. Aber frag Bernd Schäfer, der weiß mehr darüber.«
»In Ordnung. Danke.«
Monika nickte nur, dann eilte sie hinüber in Kabine drei, wo ein kleines Mädchen lag, das auf dem Schulweg vom Rad gestürzt war. Zum Glück hatte die Kleine nur Prellungen und eine Wunde am Knie davongetragen. Nichts Besonderes, das waren Verletzungen, die die erfahrene Monika allein versorgen konnte.
Dr. Schäfer hingegen kümmerte sich um einen alten Herrn, der am Steuer seines Wagens einen Herzinfarkt erlitten hatte. Wie durch ein Wunder war es nicht zu weiteren Verletzten gekommen, denn der alte Mann hatte seinen Wagen noch im letzten klaren Moment auf den Randstreifen fahren können, erst dann war er besinnungslos über dem Lenkrad zusammengebrochen. Seit einer Viertelstunde versuchte das Team um Bernd Schäfer jetzt schon, das Leben des Mannes zu retten. Doch alle Mühe war umsonst. Gerade, als sie endlich aufatmen wollten, als es so aussah, als hätten sie ihn über den kritischen Punkt gebracht, bekam er einen weiteren Infarkt – und starb innerhalb weniger Sekunden.
»Hat bereits jemand die Angehörigen verständigt?« fragte Dr. Schäfer.
»Es gibt keine. Er lebt, wie aus seinen Papieren hervorgeht, in einem Seniorenstift. Ich hab’ da schon angerufen.« Schwester Walli zuckte die Schultern. »Er hat keine Verwandten mehr.«
»Ja, dann…« Der junge Chirurg wandte sich an Julia Martensen, die zusammen mit ihm versucht hatte, das Leben des Achtzigjährigen zu retten. »Vielleicht ist es besser so.«
Die Internistin nickte. »So schockierend es im ersten Moment auch scheint – eigentlich ist es für den Betroffenen ein schöner Tod gewesen. Er hat nicht mehr viel gemerkt. Schmerzen, Ängste, Seelenqualen blieben ihm erspart. Ich bin sicher, mancher Krebspatient würde mit ihm tauschen.«
»Da magst du recht haben.« Dr. Schäfer nickte der älteren Kollegin zu. »Ich geh’ dann mal wieder rüber. Vielleicht ist Adrian schon da.«
Er traf den Freund noch auf dem Flur. Sie begrüßten sich herzlich, doch Zeit für ein paar private Worte hatten sie nicht. Adrian fragte gleich: »Was ist mit der neuen Patientin, die avisiert ist?«
»Du glaubst es kaum – es ist Verena Merbold. Du erinnerst dich: das bildschöne Fotomodell mit dem Aneurysma.«
»Dann hat sie sich also besonnen!«
»So einfach scheint es nicht zu sein. Wie ich gehört habe, ist unser Patient Mathias Kehlmann ihr Lebensgefährte. Irgendwer hat sie von seinem Unfall in Kenntnis gesetzt, sie hat einen schweren Schock bekommen, und jetzt ist sie nach hier unterwegs. Ich habe lange mit einem Hotelarzt aus Timmendorf gesprochen, er hat sie wohl überredet, sich endlich behandeln zu lassen.«
»Verrückte Geschichte«, meinte Adrian nur. »Ich gehe als erstes hoch zur Intensiv. Ruf mich an, wenn diese Frau eintrifft.«
»Mach ich.«
Dr. Winter untersuchte Mathias sorgfältig. Der Patient war immer noch nicht ansprechbar. Bis gestern abend, so stand im Behandlungsprotokoll, hatte Dr. Roloff ihn im künstlichen Koma gehalten, um ihm das Schlimmste an Schmerzen zu ersparen. Jetzt war er zwar wach, aber er reagierte kaum, als Adrian Winter ihn ansprach.
Alles in allem jedoch konnten die Ärzte mit seinem Zustand zufrieden sein.
Adrian Winter hatte die Station noch nicht verlassen, als der Piepser ihn schon zur Notaufnahme rief. Verena Merbold war eingetroffen!
Der Chef der Unfallambulanz erschrak, als er die junge Frau erblickte. Elend sah sie aus. Jeder Glanz war aus ihrem schönen Gesicht verschwunden, und man konnte deutlich erkennen wie krank sie war.
Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann stützte sie, und es war klar ersichtlich, daß das auch notwendig war.
»Einen Rollstuhl! Schnell!« rief Adrian Winter einer jungen Lernschwester zu.
Gleich darauf ließ sich Verena in dem Stuhl nieder. »Danke«, murmelte sie, und sogar aus ihrer Stimme war alle Kraft gewichen.
»Gut, daß Sie da sind, Frau Merbold.« Adrian Winter streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. »Die Fahrt war anstrengend, nicht wahr?«
Sie nickte nur, und der Mann an ihrer Seite meinte: »Ich bin so vorsichtig gefahren wie eben möglich, Herr Doktor. Aber die letzten hundert Kilometer… ich hatte echt Angst.«
»Herr Tönnissen war so freundlich, mich in seinem Wagen herzubringen.«
Adrian nickte dem Mann zu und gab ihm die Hand. »Ich bin Dr. Winter und leite diese Abteilung der