weil Verena es so wollte. Aber er, Mathias, würde ihn schon zum Reden bringen!
Entschlossen griff er nach einer Lederjacke und stürmte aus der Wohnung.
Sein Wagen stand vor dem Haus in einer Parkbucht, er konnte also sofort losfahren. Ohne nach rechts oder links zu sehen, gab Mathias Gas.
Er hatte den Lastwagen, der von rechts kam und dem er die Vorfahrt genommen hatte, einfach nicht gesehen. Er bemerkte das Fahrzeug erst, als es wie eine große rotbraune Wand vor ihm auftauchte. Er hörte lautes, wütendes Hupen, registrierte noch das wilde Kreischen der Bremsen – dann hörte, spürte, empfand er gar nichts mehr…
Der Lkw-Fahrer sprang fluchend aus seinem Wagen, beugte sich in Mathias’ Auto – und rannte sofort zurück, um über sein Handy einen Notarztwagen zu bestellen.
*
»Adrian, bist du abkömmlich? Die brauchen dringend einen Arzt für den Notarzt-Wagen. Die Kollegin, die regulär fährt, ist eben zusammengeklappt. Schwanger im vierten Monat.«
Dr. Roloff, der Anästhesist der Kurfürsten-Klinik, hielt den Hörer in der Hand und sah Adrian fragend an.
Eben hatten sie noch im Büro des Chirurgen gemütlich zusammengesessen und ein bißchen privat geplaudert. Der Anästhesist, der seit Jahren an der Klinik arbeitete, gehörte zu Dr. Winters engeren Freunden, und die beiden Männer, die äußerlich so unterschiedlich wirkten, verstanden sich blendend. Eben hatte Werner Roloff von einer Vernissage erzählt, die er zusammen mit seiner Frau am vergangenen Abend besucht hatte.
Adrian Winter wußte, daß die Beziehung des Ehepaar Roloff nicht ganz unproblematisch war, um so mehr freute es ihn zu hören, daß Werner mal einen besonders harmonischen Abend verbracht hatte.
»Was ist denn passiert?« fragte er, während er schon aufstand.
»Schwerer Unfall – Lastwagen mit Pkw. Wo genau, wird man dir noch sagen.«
»Gut, dann bin ich unterwegs. Gib Bernd Schäfer Bescheid, er soll hier die Stellung halten.«
»Geht schon klar.«
Wenige Minuten später saß Dr. Winter schon im Notarztwagen, den ein junger Sanitäter in halsbrecherischem Tempo durch die Innenstadt Berlins lenkte. Zwischendurch schimpfte er über die diversen Umleitungen, die sich aus den Umbaumaßnahmen in der City ergaben, doch niemand reagierte darauf.
Am Unfallort hatten sich schon so viele Neugierige versammelt, daß der Notarztwagen Mühe hatte, überhaupt durchzukommen.
»Verdammt, ich könnte diese Meute erwürgen«, schimpfte der junge Sanitäter aufgebracht.
»Das nützt auch nichts«, gab Dr. Winter zurück. »Es liegt wohl in der Natur des Menschen, daß er neugierig ist – und vor allem Sensationen liebt, egal, welcher Art sie sind.«
»Das lernt der Ewald auch noch«, murmelte der ältere der Sanitäter, dann sprang er hinter Adrian Winter aus dem Wagen und eilte zur Unfallstelle.
Mathias Kehlmanns Wagen war durch den Zusammenstoß völlig demoliert worden. Wie leblos hing der junge Mann in seinem Sitz, und als erste kontrollierte Dr. Winter seine Lebensfunktionen.
»Er muß so schnell wie möglich hier raus«, meinte er, nachdem er festgestellt hatte, daß die Atmung des Verunglückten besorgniserregend flach und der Puls kaum noch zu tasten war. »Aber er scheint so sehr eingeklemmt zu sein, daß wir ihn allein nicht rauskriegen.«
»Die Feuerwehr muß jeden Augenblick hier sein«, meldete ein Polizeibeamter, der bisher zusammen mit einem Kollegen versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern.
»Wir versuchen trotzdem, schon mal einen Tropf anzulegen«, bestimmte Adrian Winter. »Der Kreislauf muß unbedingt gestützt werden.«
Gemeinsam mit den beiden Sanitätern bemühte er sich um Mathias Kehlmann, und noch bevor die Feuerwehr anrückte, um mit schwerem Werkzeug das Wrack so weit zu entzerren, daß der Verletzte geborgen werden konnte, hatten sie eine Infusion angelegt.
Endlich war es soweit – sie konnten den Verletzten bergen, und Dr. Winter konnte endlich eine umfassende Untersuchung vornehmen.
»Ich vermute ein paar schwere innere Verletzungen«, sagte er, nachdem er die Bauchdecke abgetastet hatte. »Außerdem macht mir die Kopfwunde, die hier links an der Schläfe ist, gewisse Sorgen.«
Fragend sah ihn der ältere der Sanitäter an. »Wieso denn? Das sieht doch eigentlich nach einer harmlosen Platzwunde aus.«
Aber Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Glaub’ ich nicht. Wir werden, sobald wir in der Klinik sind, eine genaue Computertomografie machen.«
Und wieder einmal dankte er insgeheim der modernen Medizin, die es ihm und seinen Kollegen ermöglichte, ganz besonders exakte Diagnosen zu stellen.
Aber immer noch waren die Ärzte auf ihr Gespür angewiesen. Nicht in allen Fällen konnte man die genaue Erkrankung oder Verletzung gleich diagnostizieren, da kam es wirklich auf viel Erfahrung – und Intuition an.
Dr. Winter war ein hervorragender Diagnostiker, das hatten ihm während des Studiums seine Professoren immer wieder bestätigt. Für eine Weile hatten sie ihm deshalb auch die Innere Medizin schmackhaft machen können, aber letztendlich hatte Adrian sich doch für die Chirurgie entschieden.
»Wir sind soweit, Doktor!« Die beiden Sanitäter hatten den Verunglückten auf der Trage festgeschnallt und vorsichtig in den Wagen gehoben.
Adrian nickte und schwang sich auf seinen Platz im Wagen, wo er, so eng es auch war, sich hervorragend um den Verunglückten kümmern konnte.
Die Fahrt durch die Stadt kam ihm ewig lang vor, und als einmal die Atmung seines Patienten aussetzte, war er fast schon versucht aufzugeben.
Aber… noch lebte Mathias! Und wo Leben war, da war auch Hoffnung. Deshalb kämpfte Dr. Winter weiterhin um dieses Leben, das an dem berühmten seidenen Faden hing. In der Notaufnahme war man bereits darüber informiert, daß der neue Patient in Lebensgefahr schwebte.
Schwester Walli und ihre Kollegin Claudia standen bereit, um den Verunglückten sofort hinüber zur Tomographie zu bringen.
Dr. Roloff und sein Kollege Taubert übernahmen dort erst einmal den Patienten, während Dr. Winter und Dr. Schäfer sich für die Notoperation fertigmachten.
»Ist genug Spenderblut da?« erkundigte sich der Chirurg bei Schwester Monika.
Die hübsche Pflegerin mit den kurzen dunklen Locken nickte. »Wir lassen gerade die Blutgruppe des Mannes bestimmen – ich bin sicher, daß wir alles dahaben, was wir brauchen.«
Lernschwester Bea, die soeben von einem Polizisten, der dem Notarztwagen gefolgt war, eine Aktentasche übernommen hatte, kam zu ihrem Chef. »Das ist gerade gebracht worden. Die Tasche gehört unserem neuen Patienten. Soll ich mal nachsehen, ob er was Wichtiges drin hat?«
Adrian nickte nur. Er war nervös. Warum nur dauerte die Tomografie so lange? Er wußte natürlich, daß er ungerecht war, doch eine innere Stimme sagte ihm, daß man nicht länger mit dem Eingriff zögern durfte.
Schwester Bea hatte unterdessen die Tasche geöffnet. »Hier… eine kleine Männerhandtasche. Und darin…« Sie öffnete die schwarze Tasche, »ja, hier ist seine Brieftasche.«
»Laß mal sehen.« Schwester Monika nahm der jüngeren Kollegin die Brieftasche ab und suchte konzentriert. »Da ist es… ich hab’s geahnt! Er hat einen Organspender-Ausweis dabei. Und hier ist auch die genaue Blutgruppe angegeben: 0 negativ. Ich geb’s sofort ans Labor durch.«
»Danke.« Adrian Winter nickte ihr zu. Monika war eine sehr versierte Krankenschwester, die sich durch fast nichts aus der Fassung bringen ließ. Und das war gerade in solchen Krisensituationen wie jetzt und hier unverzichtbar.
Eine Viertelstunde später standen die beiden Chirurgen im Waschraum und kleideten sich ein. Der Patient wurde gerade auf den OP-Tisch gelegt, und der Anästhesist kümmerte sich bereits um die umfassende Narkose.