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Verena irrte ziellos durch die Straßen. Seit sie die Kurfürsten-Klinik verlassen hatte, war sie wie paralysiert. Alle wirklich logischen Gedanken schienen ausgelöscht zu sein. Nur eins schwirrte in ihrem Kopf herum. Fort von hier. Fort aus Berlin. Fort aus Mathias’ Nähe…
Als sie in der Halle gesessen und auf Dr. Winter gewartet hatte, war ihr zum erstenmal der Gedanke gekommen, und inzwischen war er zu einer fixen Idee geworden: Sie durfte Mathias nicht an sich binden. Er, der so gesund und sportlich war, sollte sein Leben nicht mit einer schwerkranken Frau verbringen müssen.
Und sie selbst… sie wollte keine Belastung für ihn sein. Er sollte nicht nur aus Pflichtgefühl bei ihr bleiben. Besser war es da schon, er behielt sie so in Erinnerung, wie sie jetzt noch war – jung und schön.
Verena machte sich nicht klar, daß sie völlig überzogen reagierte und dabei irrational handelte. Sie folgte nur ihrem Gefühl, und das befahl ihr, sich irgendwo zu verkriechen, wo niemand sie kannte.
Sie hatte kein Gepäck dabei, doch in der ersten Nacht bereitete ihr das keine Schwierigkeiten. In dem kleinen Hotel an einem der vielen Seen, die es rund um Berlin gab, stellte ihr niemand Fragen. Anstandslos bekam sie ein Notset für die Nacht.
Mit wild klopfendem Herzen und diffusen Schmerzen ging sie zu Bett. Immer wieder horchte sie nach innen – hörte sie das Pulsieren des Blutes? War wirklich noch alles normal? Oder… gab es schon Aussetzer?
Kurz vor dem Einschlafen dachte sie noch einmal an Mathias, und ohne daß sie es wollte, begann sie zu weinen.
So schön war ihr Leben vor kurzem noch gewesen. Die Zukunft hatte in den sonnigsten Farben vor ihnen beiden gelegen. Und nun machte die Diagnose eines Arztes plötzlich alles zunichte…
Verena schlief nicht gut in dieser Nacht, und das schlechte Gewissen, das sie Mathias Kehlmann gegenüber hatte, quälte sie mindestens so stark wie die Angst vor dem Tod.
Nach einem kargen Frühstück im Hotel beschloß sie, zurück nach Berlin zu fahren. Es brachte ja doch nichts, einfach zu verschwinden. In der heutigen Zeit konnte man nicht so einfach untertauchen.
Ihr alter Hausarzt war überrascht, als sie gegen Mittag bei ihm erschien. »Verena… ich hab’ geglaubt, du bist schon in der Klinik.« Forschend blickte er sie an. »Was ist los?«
Sie biß sich kurz auf die Lippen. »Ich war in der Kurfürsten-Klinik, aber…« Noch einmal zögerte sie, dann gestand sie: »Ich bin fortgelaufen, nachdem die Diagnose feststand.«
»Und?« Fragend sah Dr. Förster sie an. »Was haben die Kollegen festgestellt?«
Tränen standen in ihren schönen Augen, als sie leise sagte: »Ich habe ein Aneurysma. Die Ärzte in der Klinik haben kein Hehl daraus gemacht, wie gefährlich so etwas ist.« Bang fragend sah sie ihren alten Hausarzt an. »Stimmt das wirklich? Muß ich von jetzt an Angst um mein Leben haben?«
Dr. Förster war schon sehr lange Arzt, und es war ihm schon häufig passiert, daß er einem Patienten eine schwerwiegende Diagnose hatte stellen müssen.
Doch in Verenas Fall erschien es ihm besonders schwer. Er mochte sie sehr, sie erinnerte ihn immer ein wenig an seine Tochter, die leider in Australien verheiratet war und die er nur sehr selten sehen konnte.
»Ein Aneurysma…« Er seufzte auf. »Damit ist wirklich nicht zu spaßen. Aber heutzutage gibt es beste Operationstechniken, die...«
»Das geht aber doch nicht!« fiel sie ihm ins Wort. »Stellen Sie sich nur mal vor, wie das aussieht… Ein Fotomodell mit aufgeschnittenem Bauch. Kein Mensch will eine Narbe sehen. Ich wäre out, von einem Tag zum anderen tot für die ganze Branche.«
Dr. Förster zuckte die Schultern. »Besser für diese Branche tot als wirklich nicht mehr unter den Lebenden, meinst du nicht?« Er sagte das bewußt so brutal, um die junge Frau aufzurütteln. Sie durfte sich jetzt nicht selbst aufgeben, er mußte ihren Lebenswillen wecken – und das ging nur, wenn er ihr einen Weg zeigte, wie ihr Leben nach der Arbeit vor der Kamera aussehen konnte.
Doch Verena schüttelte heftig den Kopf, als er mit leisen Worten zu sprechen begann. »Lassen Sie nur, Doktor, das habe ich mir alles schon selbst gesagt. Ich… ich werde es mir noch einmal überlegen – und dann wohl in die Klinik gehen. Danke für alles.« Sie beugte sich vor und hauchte ihm einen kleinen Kuß auf die Wange. Dann war sie verschwunden, ehe er noch ein Wort erwidern konnte.
Nach dem Besuch beim Arzt ging sie zu ihrem Agenten. Sie wirkte ernst und entschlossen, als sie erklärte: »Stell mir keine Fragen, ja? Sag mir nur, ob es möglich ist, daß ich für ein paar Wochen ganz weit weg von hier einen Job bekommen kann. Das Honorar ist nicht so wichtig. Nur weg muß ich.«
»Ja, aber…«
»Kein Aber, Carlo. Kannst du was arrangieren oder nicht?«
»Sicher. Irgendwas läuft immer. Und wenn du keine Ansprüche stellst… Aber denk doch mal an die Chancen, die du vielleicht versäumst. Lengenbach war begeistert von dir, hab’ ich gehört. Und auch in den USA ist man schon auf dich aufmerksam geworden. Aber von heute auf morgen läuft leider nichts, da mußt du mir schon ein wenig Zeit lassen.«
»Tue ich aber nicht, Carlo. Ich will fort von hier, weg aus der Stadt, weg von Mathias. Also – hilfst du mir oder nicht?«
Carlo grinste. »Ach so ist das! Beziehungsstreß! Na ja, wenn’s so ist… Für ein paar Tage könnte ich dich zu einer Modenschau nach Nizza verpflichten. Nichts Großes, eigentlich nicht deine Kragenweite. Aber du wärst weg vom Fenster. Und anschließend...« Er blätterte in einem Terminkalender. »Wenn du willst, kannst du für Sofia einspringen. Sie muß zu Aufnahmen nach Zypern, will aber nicht so gern. Du weißt, ihr Baby ist nicht ganz gesund. Also, den Job kannst du gleich anschließend haben.«
Verena nickte. »Danke. Ich wußte doch, daß ich mich auf dich verlassen kann. Und – kein Wort zu Mathias, okay?«
»Ehrensache.« Carlo grinste. »Hätte ich nie gedacht, daß ihr zwei mal Streß miteinander bekommen würdet. Aber es gibt eben keine Wunder mehr.«
Verena nickte nur. Sie hatte jetzt keine Ruhe, hier im Büro des Agenten zu sitzen und sich seine Phrasen anzuhören. Sie fühlte sich elend und müde, und wieder pochte ihr Herz wie verrückt.
»Ich muß los, es gibt noch einiges vorzubereiten«, stieß sie hastig hervor. »Übrigens… ich bin nicht zu Hause anzutreffen, sondern im Hotel.«
Als sie den Namen nannte, verzog ihr Agent nur leicht den Mund, doch das allein sagte bereits genug. So tief ist euer Zerwürfnis also, daß du dich regelrecht verkriechst… Sie glaubte, die Worte an seinen Augen ablesen zu können, war aber froh, daß er nichts sagte.
Auf dem Weg zum Hotel kaufte sie sich ein paar notwendige Dinge, dann zwang sie sich, in einem Schnellrestaurant etwas zu essen – und verkroch sich hinterher in ihrem Bett.
Da lag sie nun, grübelnd, ängstlich, voller Zweifel. Und hatte nur den einen einzigen Wunsch: Sich in Mathias’ Arme flüchten und ihm alles anvertrauen zu können. Doch das durfte nicht sein. Sie liebte ihn viel zu sehr, als daß sie es fertiggebracht hätte, ihn an eine Schwerkranke wie sie zu fesseln.
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»Kann mir irgend jemand sagen, wo Dr. Schäfer ist?« Adrian Winter sah sich suchend in der Ambulanz um. Überall herrschte Hektik, und niemand von den anwesenden Kollegen machte sich überhaupt die Mühe, ihm zu antworten.
Auf der Autobahn war es zu einer Massenkarambolage gekommen. Ein schwerer Sattelschlepper war umgestürzt und hatte noch drei Kleinwagen unter sich begraben. Außerdem waren sechs Autos auf die Unfallstelle aufgefahren.
Es hatte drei Tote gegeben und jede Menge Verletzte – wie viele es genau waren, wußte Adrian Winter nicht. Er wußte nur, daß sie hier in der Kurfürsten-Klinik im Moment völlig unterbesetzt waren.
»Chef, könnten Sie mal kurz nach der Frau in Kabine drei sehen?« Schwester Renate, ganz neu im Team, trat neben