aufgedunsen. Er bekam kaum noch Luft und hing völlig apathisch in Noras Armen.
Sekundenlang machte sich Dr. Winter Vorwürfe. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, den Notarzt hierher zu schicken. Aber… jetzt war es zu spät, jetzt galt es nur noch, optimal zu helfen.
»Erzähl mal, was ihr alles gegessen habt heute abend«, forderte er Nora auf. »Oder weißt du vielleicht, ob Uwe auf irgendwas allergisch reagiert?«
Nora schüttelte den Kopf. »Nö. Ich weiß von gar nix. Und gegessen… Abendessen weiß ich nicht, das hat er mit seinen Eltern gehabt. Bei mir hat er nur noch nach einem Stück Nußkuchen gefragt.«
»Und bekommen, ja?«
Sie nickte. »Klar. Uwes Mutter ist eine tolle Bäckerin. Sie hat uns schon oft Kuchen gemacht.«
»Auch Nußkuchen?«
»Sicher. Warum wollen Sie das wissen?«
»Weil es viele Menschen gibt, die gegen Nüsse allergisch sind.« Während er sprach, hatte er den kleinen Jungen bereits untersucht.
»Nüsse können es nicht sein«, meinte Nora. »Die hat er schon oft gegessen. Und nie ist was passiert.«
Adrian Winter sah kurz hoch. »Überleg weiter… was habt ihr gemacht? Was hat er gegessen? Oder hat er was besonderes gespielt? Womit? Nora, es ist ungemein wichtig!«
Das Mädchen runzelte die Stirn und überlegte genau. »Die Luftballons!« Fragend blickte sie den Arzt an. »Ich hab’ ihm ein paar Luftballon‚ mitgebracht. Die gab’s als Werbegeschenk heute mittag im Supermarkt. Und weil ich da schon wußte, daß ich zu Uwe soll, hab’ ich mir einige eingesteckt.«
Adrian zuckte leicht zusammen. »Das könnte es sein! Latex!«
»Aber…« Nora sah ihn verständnislos an, während der Arzt schon eine Spritze aufzog. »Gleich geht’s dir besser, Uwe«, sprach er beruhigend auf den Jungen ein. »Ganz tief atmen. Ja, so ist’s gut. Komm, ich stütze deinen Kopf ein bißchen. Keine Angst, alles wird wieder gut.«
Tatsächlich – man konnte zusehen, wie der kleine Kranke sich erholte.
Erst als Dr. Winter sicher sein konnte, daß er seinem Patienten wirkungsvoll hatte helfen können, fuhr er in seinen Erklärungen fort.
»Heutzutage ist Latex allgegenwärtig. In Haushaltshandschuhen, Babyschnullern und Gummischürzen. In all den Dingen eben, die aus dem Milchsaft des Kautschukbaumes gewonnen werden. Viele Menschen sind dagegen allergisch. Aber nicht bei allen kommt es zu so einer starken Sofortreaktion wie bei Uwe. Nun ja, bald ist alles vergessen. Er wird sich schnell erholen. Sieh nur, die Rötung verschwindet schon, und die Schwellung klingt auch schon ein bißchen ab.«
Nora nickte. Sagen konnte sie nichts, denn sie fühlte sich schuldig. Wenn sie Uwe die Luftballons nicht mitgebracht hätte…
Dr. Winter schien ihre Gedanken zu ahnen. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Nora«, sagte er. »Bislang hat wohl niemand von dieser Allergie gewußt. Und oft ist es so, daß Menschen jahrelang beschwerdefrei waren – und plötzlich einen gewissen Stoff nicht mehr vertragen. Ich denke, wenn Uwes Mutter gewußt hätte, daß ihr Sohn Allergiker ist, hätte sie dich darauf aufmerksam gemacht.«
Das leuchtete ihr ein, und Nora entspannte sich wieder. »Und jetzt? Was soll ich jetzt tun?«
»Gar nichts. Laß Uwe ruhig schlafen. Dabei erholt er sich am besten. Aber du mußt unbedingt mit den Eltern reden, es ist wichtig, hörst du. Sie müssen dringend mit Uwe zum Kinderarzt, damit er durchgecheckt wird. Vielleicht ist er auch noch auf andere Dinge allergisch. Wenn sie wollen, können sie mich auch in der Klinik anrufen – ich hab’ Nachtdienst.«
»Danke, Dr. Winter! Ich… ich hatte ehrlich Bammel.«
»Durftest du auch haben. Mit solch einer Allergieattacke ist wirklich nicht zu spaßen.« Er ging zur Tür. »Trotzdem – gute Nacht, Nora.«
»Nacht. Und nochmals – danke.«
Er nickte nur, winkte ihr ein letztes Mal zu und fuhr rasch in die Klinik zurück.
»Wie war’s?« empfing ihn Julia Martensen.
Kurz erstattete er Bericht. »Und hier? Gab’s hier was Besonderes?«
Die schöne Kollegin schüttelte den Kopf. »Nur zwei Brüche, ein Schleudertrauma und drei Opfer einer Kneipenschlägerei. Ganz normal, das alles.«
Dr. Winter nickte. Ganz normal… für eine Großstadt wie Berlin war das wirklich normal.
*
Verena wurde durch das schrille Klingeln des Telefons wach. Schlaftrunken drehte sie sich zur Seite und griff nach dem Hörer.
»Endlich! Schätzchen, du mußt dich beeilen! Wir brauchen dich in Wien. Dringend!« Die Stimme ihres Managers klang hektisch wie immer.
Verena dehnte und reckte sich in ihren Kissen. »Sorry, aber ich hab’ Urlaub, wie du weißt!«
»Ja, ja, ich weiß. Aber… es ist eine totale Notlage. Und wenn dich Kaiser Mark ruft, solltest du wirklich nicht kleinlich auf deinen Urlaubsplänen beharren.«
Mark… Markus Lengenbach… Beim Gedanken an den genialen Modeschöpfer wurde Verena regelrecht nervös. Sie schwang die Beine aus dem Bett und wollte schon zusagen, als ihr urplötzlich schwarz vor Augen wurde. Sie hatte gerade noch die Kraft, sich abzustützen und wieder zurücksinken zu lassen.
»Also, Süße, was ist?« Die Männerstimme am anderen Ende der Leitung drängte.
»Ich mach’s«, flüsterte sie mit letzter Kraft. »Wann?«
»Morgen. Ich laß dir ein Ticket buchen, ja?«
»Einverstanden.«
Sie ließ den Hörer einfach aus der Hand fallen, war nicht mehr imstande, irgend etwas zu tun, zu entscheiden. So elend war ihr plötzlich, daß sie nur noch den einen Wunsch hatte, weiterzuschlafen.
Als sie wach wurde, war es heller Nachmittag, wie ein rascher Blick auf die Uhr zeigte.
»Um Himmels willen, Mathias!« Siedendheiß fiel ihr ein, daß sie sich mit ihrem Freund zum Lunch verabredet hatte. Nun war’s zu spät!
Gerade, als sie ihn anrufen und sich für ihr Fehlen entschuldigen wollte, klingelte das Telefon.
»Verena, Schatz… du, es tut mir so leid, daß ich nicht kommen konnte. Hast du lange auf mich gewartet?« Mathias Kehlmanns Stimme klang aufrichtig bedauernd. »Der Termin kam so kurzfristig, daß ich nicht einmal mehr anrufen konnte. Und… während der Besprechung war nicht eine Sekunde Zeit, um in unserem Bistro anzurufen. Bist du mir sehr böse?«
»Gar nicht«, versicherte sie erleichtert, daß ihr eine Entschuldigung – und eine Ausrede erspart geblieben waren.
»Ich komme heute besonders früh. Ich… ich muß dir noch was sagen«, fuhr er zögernd fort.
»Was denn?«
»Später, ja?«
»Ist gut.« Mit einem kleinen Seufzer legte sie auf. Ein paar Stunden hatte sie gewonnen. Aber… damit war das Problem nicht gelöst. Wie machte sie Mathias nur klar, daß aus ihren Urlaubsplänen nichts werden konnte? Ob er sie verstehen würde? Ob er erkannte, wie wichtig dieser Auftrag für sie war?
Verena verbrachte Stunden voller Unruhe. Zwischendurch mußte sie sich wieder hinlegen, weil sie sich nicht gut fühlte. Komisch. Ob sie sich den Magen verdorben hatte? Oder gar eine Grippe bekam?
Alles, nur das jetzt nicht! Wenn sie mit Lengenbach zusammenarbeiten durfte, mußte sie in Topform sein!
Und dann war alles ganz anders.
Mathias kam mit Rosen – und einem um Verständnis bittenden Lächeln auf den Lippen.
»Wir müssen den Urlaub verschieben«, sagte er und nahm Verenas Hände in die seinen, um jeden