dich ein bißchen im Kinderwagen durch den Park. Dann schläfst du ein und mußt nicht mehr schreien.«
Für einen Augenblick hielt das Kind inne und sah ihn aus seinen klaren blauen Augen an. Andreas gab ihr einen Kuß. »Ich bin verliebt in dich, Fränzchen, weißt du das?«
Franziska schloß die Augen, öffnete den Mund und schrie aus Leibeskräften.
*
Dr. Adrian Winter war todmüde, als er an diesem Abend, wieder einmal viel zu spät, nach Hause kam. Er hatte noch Überstunden machen müssen, denn der Ansturm auf die Notaufnahme war unglaublich gewesen. Zeitweise hatten sie geglaubt, es nicht schaffen zu können: Knochenbrüche, einige Herzinfarkte, Schlaganfälle, Brandverletzungen, eine Schießerei, zwei Messerstechereien – nichts war ihnen heute erspart geblieben.
Es war alles in allem ein schrecklicher Tag gewesen, von einem einzigen Lichtblick abgesehen: Schwester Katja. Sie redete nicht viel, aber sie konnte zupacken, und sie sah immer, wo eine helfende Hand fehlte. Ein wahrer Glücksgriff. Aber sonst…
»Da sind Sie ja endlich!« sagte eine besorgte Stimme hinter ihm, und er drehte sich lächelnd um.
»Guten Abend, Frau Senftleben, ja, da bin ich. Es war ein langer und ziemlich schrecklicher Tag, das kann ich Ihnen sagen. Ich war fast zu müde, um mich noch nach Hause zu schleppen.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, das sehe ich auch so«, stellte seine Nachbarin fest. Ihre Stimme klang mütterlich besorgt. Sie bewohnte eine große Wohnung, seinem Appartement gegenüber, und hatte den jungen Arzt vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen. Diese Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, und merkwürdigerweise ging es ihm nicht auf die Nerven, daß sie sich um ihn sorgte und ihn gelegentlich zwang, eine ihrer schmackhaften Mahlzeiten zu sich zu nehmen.
Carola Senftleben näherte sich allmählich ihrem siebzigsten Geburtstag, doch das sah man ihr nicht an. Sie war eine zierliche, energische kleine Person, die früher eine große Schneiderei geleitet hatte. Ihre grauen Haare trug sie kurz und glatt, ihre porzellanblauen Augen blickten so unschuldig in die Welt, als sei sie noch immer ein kleines Mädchen. Doch dieser Eindruck täuschte. Hinter ihrem harmlosen Äußeren verbarg sich ein starker Charakter, und wer sich mit ihr anlegte, tat gut daran, sich warm anzuziehen.
Adrian und sie verband eine gute Freundschaft, die sie beide pflegten. Jetzt sagte sie kurz angebunden: »Sie haben ja doch wieder nichts Anständiges zu essen im Haus, wie ich Sie kenne, Adrian. Zufällig habe ich einen kräftigen Rindfleischeintopf gekocht. Der wird Ihnen jetzt guttun.«
Adrian lächelte breit. »Zufällig« hatte Frau Senftleben öfter gerade dann etwas gekocht, wenn es in der Kurfürsten-Klinik besonders hoch herging, und er fragte sich, woher sie das immer wußte. Oder hatte sie vielleicht auf Vorrat gekocht? Er hatte dieses Geheimnis bisher nicht ergründen können, aber eigentlich war es auch nicht wichtig. Er nahm ihre Einladungen in der Regel an, ohne sich lange zu zieren.
So war es auch diesmal. »Ich stelle nur schnell meine Sachen ab und kippe mir ein wenig Wasser ins Gesicht, Frau Senftleben«, sagte er. »Und dann nehme ich Ihre Einladung mit dem größten Vergnügen an, wenn Sie mir gestatten, eine Flasche Rotwein zum Essen beizutragen. Zufällig«, er betonte das Wort genau wie sie, »habe ich noch eine irgendwo herumstehen.«
»Gut, bis gleich«, sagte sie und verschwand in ihrer Wohnung. Die Tür ließ sie offen. Sie hatten, seit sie Nachbarn waren, bestimmte Gewohnheiten entwickelt, an denen sie festhielten.
Drei Minuten später betrat Adrian mit der bereits geöffneten Rotweinflasche Frau Senftlebens großzügige Wohnung und folgte schnuppernd dem Duft, der aus der Küche kam. »Hmh, Frau Senftleben, das duftet ja himmlisch.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Natürlich tut es das«, erklärte sie. »Was haben Sie denn gedacht? Kochen kann ich schließlich!«
Sie füllte ihm den Teller randvoll, während er den Wein einschenkte. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz. Sie aßen immer in Frau Senftlebens Küche, weil es eine von diesen großen, altmodischen Wohnküchen war, in denen man so wunderbar gemütlich sitzen und essen konnte.
»Und nun erzählen Sie mal«, sagte sie. »Was war denn nun so schrecklich?«
Er berichtete ihr von den unzähligen Patienten, die heute in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik geströmt waren. »Aber es gab auch etwas Gutes«, sagte er schließlich. »Wir haben eine neue junge Schwester bekommen, die unser Team in der Notaufnahme für einige Wochen verstärkt. Schwester Katja. Sie ist nicht nur schön, sondern auch eine Spitzenkraft. Dabei kann sie höchstens zwanzig sein. Bernd hat sich natürlich sofort in sie verliebt.«
Er mußte Frau Senftleben nicht erklären, daß Bernd sein Kollege Dr. Schäfer war – sie war bestens über alles informiert. Und so nickte sie jetzt auch nur wissend. »Natürlich«, sagte sie dann. »Das war ja vorherzusehen, wo er doch bei Schwester Moni nicht landen kann.«
»Es wird ihm bei Schwester Katja nicht anders gehen, aber er wird ja nicht klug«, erwiderte Adrian und streckte sich voller Wohlbehagen. »Meinen Sie, Frau Senftleben, daß von diesem köstlichen Eintopf noch etwas da ist? Ich könnte glatt noch einen Teller davon essen.«
Seine Nachbarin erhob sich mit einem zufriedenen Lächeln und füllte seinen Teller von neuem. Sie selbst aß nichts mehr, sondern begnügte sich damit, Adrian beim Essen zuzusehen. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder gehabt, und so hatte sie den jungen Arzt »adoptiert«, wie sie manchmal im Scherz sagte.
»Wie geht’s Ihrer Schwester?« erkundigte sie sich. »Sie ist lange nicht mehr hier gewesen.«
»Sie kennen doch Esther«, antwortete er. »Die wirbelt durchs Leben, ohne auch nur gelegentlich Luft zu holen. Aber es ist gut, daß Sie mich an sie erinnern. Ich sollte sie unbedingt mal wieder anrufen.«
»Noch einen?« fragte Frau Senftleben, als Adrian auch den zweiten Teller geleert hatte.
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich würde gern noch, aber ich fürchte, es geht nichts mehr ’rein.«
Sie lachte und erhob ihr Glas. »Zum Wohl, Adrian. Sie sehen schon viel besser aus als vorhin.«
»Dank Ihrer Kochkunst und Ihrer reizenden Gesellschaft«, erwiderte er charmant.
Danach blieb er nicht mehr lange, denn der harte Arbeitstag und das üppige Essen forderten ihren Tribut. Er hatte sich kaum ins Bett gelegt, als er auch schon fest eingeschlafen war.
Carola Senftleben jedoch war jetzt erst richtig munter geworden. Sie räumte ihre Küche auf, plante bereits das nächste Essen, das sie für ihren überarbeiteten Nachbarn kochen würde, schrieb noch einige Briefe, nähte einen Kissenbezug und ging schließlich gegen drei Uhr morgens zufrieden und müde ins Bett.
*
Dr. Esther Berger, Adrian Winters Zwillingsschwester, sauste im Eilschritt durch den Supermarkt. Auf den ersten Blick hätte man sie leicht für einen Teenager halten können: Sie war sehr schlank und zierlich, und ihr blonder Kurzhaarschnitt und ihre Kleidung taten ein übriges, um sie sehr viel jünger wirken zu lassen, als sie tatsächlich war, nämlich fünfunddreißig Jahre alt. Sie trug, wie meistens in ihrer Freizeit, Jeans, Pullover und Turnschuhe. Das fand sie bequem und praktisch, außerdem stand es ihr gut, wie sie sehr wohl wußte.
Fast wäre sie mit einem jungen Mann zusammengestoßen. »Oh, Entschuldigung!« sagte sie hastig. »Ich bin so schrecklich in Eile, aber ich wollte Sie natürlich trotzdem nicht umrennen.«
Er sah ein wenig erschrocken aus und hatte schützend die Arme gehoben. Jetzt erst stellte sie fest, daß er ein Baby trug. Es lag in einem Tuch, das er sich umgebunden hatte, und schlief selig.
»Ist etwas passiert?« fragte sie besorgt.
»Ich glaube nicht, sonst wäre sie aufgewacht und hätte geschrien«, meinte er und sah liebevoll auf das Kind hinunter.
»Ihre Tochter?« fragte Esther. Sie hatte völlig vergessen, wie eilig sie es hatte. Kinder übten eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie aus.