Immerhin war es möglich, daß Esther Berger kam. Sie war die einzige, mit der er gern gesprochen hätte. Oder mit ihrem Bruder, aber der war heute morgen schon bei ihm gewesen, ganz grau im Gesicht, weil der Nachtdienst so anstrengend gewesen war.
»Guten Tag, Herr Tanner«, sagte eine sanfte Stimme, und er schloß unwillkürlich die Augen. Nicht das, dachte er. Bitte, alles, nur das nicht. Dann öffnete er die Augen wieder, drehte den Kopf, so weit das möglich war, und sagte hölzern: »Guten Tag, Frau Sandberg. Ich wollte nicht, daß Sie kommen.«
Sie war ohnehin blaß, aber nun schien ihm, als wiche auch der letzte Rest Farbe aus ihrem Gesicht. Er hatte sie verletzt, und das hatte er natürlich nicht gewollt. Aber wie sollte er ihr erklären, wie schwer es für ihn war, seinen jetzigen hilflosen Zustand zu ertragen – zumal er noch immer nicht wußte, ob dieser Zustand von Dauer sein würde.
»Dann gehe ich gleich wieder«, sagte sie steif. »Ich wollte Sie nicht belästigen.«
Sie wollte sich schon umdrehen, als er hastig rief: »Warten Sie, bitte! Ich… ich wollte nicht, daß Sie mich so sehen, verstehen Sie das denn nicht? Ich fühle mich so elend, so nutzlos… Ich kann es nicht ertragen, daß Sie mich in diesem Zustand erleben.«
Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und sie kam langsam auf ihn zu. Ohne ein Wort setzte sie sich auf den Stuhl neben seinem Bett. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie: »Ich habe erst heute erfahren, daß Sie verunglückt sind. Ich war… verreist für einige Zeit.«
»Ich…, also, ich meine, wir… wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht, als Sie plötzlich nicht mehr zum Reiten gekommen sind«, erwiderte er.
Sie ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Frau Berger hat mir erzählt, was passiert ist. Ich habe sie am Bauernhof getroffen.«
»Sie hat mich schon mehrmals besucht. Eine sehr nette Frau. Ihr Bruder arbeitet hier in der Notaufnahme, wußten Sie das?«
Sie schüttelte den Kopf. Beide waren froh, daß sie endlich ein unverfängliches Thema gefunden hatten, über das sie reden konnten.
Nach einiger Zeit aber überwand Mareike doch ihre Scheu und fragte: »Wie schlimm sind Ihre Verletzungen, Herr Tanner?«
Er lachte, und sie erschrak über die Bitterkeit in seinen Augen. »Ich werde wahrscheinlich ein Krüppel bleiben, obwohl sich hier alle redliche Mühe geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen«, antwortete er. »Ich bin querschnittsgelähmt – hat Ihnen Frau Berger das nicht erzählt?«
»Doch«, antwortete Mareike. »Das hat sie erwähnt, aber sie hat auch gesagt, daß sich diese Lähmungen zurückbilden können.«
»Können ja. Aber nicht müssen!«
»Und warum glauben Sie, daß Sie ein Krüppel bleiben? Das können Sie doch genauso wenig sicher wissen, wie die Ärzte wissen können, daß Sie gesund werden.«
Darauf wußte er keine Antwort, und so schwieg er. Dabei hätte es so vieles gegeben, das er ihr hätte sagen wollen. Aber nicht hier. Nicht, während er so hilflos im Bett lag.
Mareike hingegen überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, daß sie ihren Mann verlassen hatte, aber sie entschied sich dagegen. Es war der falsche Zeitpunkt, fand sie. Das eilte nicht, sie konnte es ihm immer noch sagen. »Ich gehe dann mal wieder«, sagte sie schüchtern. »Aber wenn ich darf, komme ich wieder.«
Ganz fest preßte er die Lippen zusammen, um nicht zu sagen, was er eigentlich sagen wollte. Er wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster. »Warum wollen Sie Ihre Zeit mit einem Krüppel verbringen?« fragte er. »Haben Sie nichts Besseres zu tun?«
Sie blieb noch einen Augenblick stehen und wartete darauf, saß er sie ansah. Doch das tat er nicht. Da drehte sie sich um und ging.
*
Dr. Adrian Winter sah nachdenklich auf Robert Sandberg hinunter. »Sie haben sehr großes Glück gehabt, wissen Sie das eigentlich?« fragte er. »Es war nur ein ganz leichter Schlaganfall.«
Der Mann mit den harten Augen nickte. »Ja, ich glaube, jetzt habe ich begriffen, was Sie mir schon beim letzten Mal sagen wollten, Herr Doktor.« Vorsichtig versuchte er, die Finger seiner rechten Hand zu bewegen. Es ging, wenn auch noch ein wenig mühsam.
»Um so besser«, erwiderte Adrian. Der Mann war ihm unangenehm, aber er war ein Patient und mußte daher behandelt werden wie jeder andere auch. »Sollen wir jetzt Ihre Frau benachrichtigen?«
»Nicht nötig«, antwortete Robert Sandberg. »Sie erfährt es früh genug. Steht es etwa noch nicht in allen Zeitungen, daß man mich in einem Bordell aufgelesen hat?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Adrian, und er sagte die Wahrheit.
Der andere sah ihn erstaunt an. »Nein? Nun sagen Sie bloß noch, es interessiert Sie auch nicht.«
Adrians Gesicht verschloß sich, und seine Stimme wurde kühl. »Genauso ist es, Herr Sandberg. Oder können Sie mir sagen, was an einer solchen Geschichte interessant sein soll? Jeder Spießer geht ins Bordell – warum nicht auch Sie?«
Das hatte gesessen, er sah es an Robert Sandbergs Augen. »Gut pariert, Doktor«, sagte der Industrielle.
Adrian schämte sich für seine Unbeherrschtheit. Er mochte den Mann nicht, aber das gab ihm nicht das Recht, ihn zu beleidigen – auch wenn er es vielleicht verdient hatte. Aber Adrian war Arzt, kein Sittenwächter. Das Privatleben von Robert Sandberg ging ihn nichts an.
»Sie können sicher bald entlassen werden«, sagte er ruhig. »Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, daß mit Ihnen wirklich alles in Ordnung ist. Guten Tag.«
Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer, und der Patient brauchte noch mehrere Minuten, bis er seine Fassung wiedergewonnen hatte. Dieser verflixte junge Doktor schaffte es offenbar jedesmal, ihn aus der Ruhe zu bringen.
*
»Was ist denn nur los?« fragte Rosemarie Hagen ihre Nichte. Das fragte sie schon seit einer Viertelstunde, aber aus Mareike war gar nichts herauszubringen. Sie schluchzte zum Steinerweichen.
Rosemarie war nach Berlin gekommen, um ihrer Nichte noch ein paar Sachen zu bringen, die diese ihrer Meinung nach für ihren neuen kleinen Haushalt gut gebrauchen konnte. Sie hatte sich nicht angekündigt, sondern hatte überraschend vor der Tür gestanden. Doch Mareike hatte kaum geöffnet, als sie ihrer Tante auch schon weinend um den Hals gefallen war. Und seitdem hatte sie mit dem Weinen nicht mehr aufgehört.
Es dauerte eine gute Stunde, bis Rosemarie Hagen sich aus dem, was ihre Nichte schließlich schluchzend und stammelnd herausbrachte, das Wesentliche zusammengereimt hatte. Es gab offenbar einen Mann, der wichtig für Mareike war, und dieser Mann lag nun schwer verletzt in einer Klinik und würde vielleicht nie wieder gesund werden.
»Jetzt beruhige dich doch endlich, Kind!« sagte die geduldige Rosemarie energisch. »Wie soll ich dir helfen, wenn du mir nicht sagst, worum es eigentlich geht? Wer ist dieser Mann? Ein guter Freund? Warum hast du mir nicht längst etwas von ihm erzählt?«
Endlich beruhigte sich Mareike ein wenig. »Es gibt nichts zu erzählen, Tante Rosi. Wir sind nur ab und zu zusammen ausgeritten. Und nun ist er so schwer verletzt, und er ist so unglücklich, und ich kann ihm nicht helfen, und…«
»Sicher kannst du ihm helfen«, widersprach Rosemarie Hagen. »Wenn er so schwer verletzt ist, dann braucht er viel Unterstützung. Du kannst ihn besuchen und ihm Mut zusprechen, das wird ihm sogar sehr helfen.« Sie wollte eigentlich noch mehr sagen, aber sie ließ es sein.
Mareike war sehr durcheinander, und das hatte offenbar mit ihren Gefühlen für diesen Mann zu tun. Ob sie sich vielleicht in Wirklichkeit deshalb von Robert Sandberg getrennt hatte? Nein, dachte Rosemarie, das mag dabei durchaus eine Rolle gespielt haben, aber die Hauptsache war wohl, daß sie endlich die wahre Natur ihres Mannes erkannt hatte.
Nun, was diesen anderen Mann betraf, so mußte Mareike selbst wissen, was sie wollte. Einen verhängnisvollen Irrtum hatte sie bereits hinter sich – ein zweiter würde ihr hoffentlich