Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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passiert war und daß er hier lag. Er wollte sie nicht sehen. Oder besser gesagt: Er wollte nicht, daß sie ihn so sah, in diesem jämmerlichen, hilflosen Zustand.

      Einige Leute aus dem Reitclub hatten ihn bereits besucht, aber natürlich nicht, weil ihnen etwas an ihm lag, sondern weil sie neugierig waren. Ihm brauchten sie nichts vorzumachen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie erzählten, daß er nie wieder auf die Beine kommen werde. Er stöhnte unwillkürlich laut auf bei diesem Gedanken.

      »So schlimm?« fragte eine freundliche Männerstimme, und im nächsten Augenblick schob sich Dr. Winters Gesicht in sein Blickfeld.

      »Unerträglich«, antwortete er, und er meinte es völlig ernst.

      Der junge Arzt ließ sich auf den Stuhl neben seinem Bett sinken. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, Herr Tanner«, sagte er hilflos. »Das mag sich für Sie unglaubwürdig anhören, denn ich kann herumlaufen, und Sie können es im Augenblick nicht.«

      »Eben!« sagte John bitter.

      »Ich kann es mir trotzdem vorstellen!« entgegnete Dr. Winter sanft, aber bestimmt. »Und ich würde Ihnen so gern Mut machen. Ihre Lage ist wirklich nicht aussichtslos, glauben Sie mir das.«

      »Ich glaube Ihnen, wenn ich auf meinen eigenen Beinen aus diesem Zimmer gehe«, erwiderte John. »Vorher nicht.«

      Es klopfte, und Dr. Winter warf John einen fragenden Blick zu.

      Der Patient schüttelte den Kopf. »Ich will niemanden sehen«, knurrte er. »Diese ganzen reichen Lackaffen kommen nur, weil sie was zu klatschen haben wollen.«

      Obwohl niemand »Herein« gesagt hatte, wurde die Tür nun vorsichtig geöffnet, und eine junge Frau streckte ihren Kopf ins Zimmer. Weiter wagte sie sich offensichtlich nicht hinein.

      »Esther!« rief Adrian erstaunt. »Was suchst du denn hier?«

      Sie war offenbar nicht minder erstaunt, ihn zu sehen. »Dich jedenfalls nicht«, antwortete sie und öffnete die Tür nun richtig, um einzutreten. »Guten Tag, Herr Tanner«, sagte sie. »Ich habe jetzt erst erfahren, daß Sie hier sind, sonst wäre ich schon viel früher vorbeigekommen.«

      »Guten Tag, Frau Berger«, antwortete John leise.

      »Ihr kennt euch?« rief Adrian. »Wieso weiß ich nichts davon?«

      »Warum solltest du?« fragte Esther erstaunt. Sie war nähergetreten und gab John Tanner die Hand. Dann beugte sie sich zu ihrem Bruder und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

      »Ich wußte auch nicht, daß Sie sich kennen«, bemerkte John, der die Begrüßung der Geschwister aufmerksam beobachtet hatte. Die beiden schienen sich sogar sehr gut zu kennen, denn diese Begrüßung hatte etwas sehr Vertrautes an sich. Ob sie…

      »Adrian ist mein Bruder«, stellte Esther sachlich fest. »Mein Zwillingsbruder, um genau zu sein. Nicht, daß Sie auf falsche Gedanken kommen, Herr Tanner!«

      »Und Herr Tanner ist der begnadete Restaurator, von dem ich dir einmal erzählt habe«, sagte Adrian. »Erinnerst du dich? Der mit den Fresken. Aber du hast damals nicht gesagt, daß du ihn kennst.«

      »Du hast seinen Namen nicht genannt, Brüderchen. Und außerdem wußte ich zwar, daß Herr Tanner Künstler ist, aber nicht, daß er restauriert. Wir kennen uns vom Reiten.«

      Adrian lächelte. »Dann wäre ja jetzt alles geklärt.«

      »Überhaupt nicht!« widersprach seine Schwester energisch. »Wieso bist du überhaupt hier und nicht in deiner Notaufnahme?«

      »Herr Tanner ist bei uns eingeliefert worden, und seitdem besuche ich ihn, wenn ich mal ein bißchen Zeit habe. Ich bin nicht mehr sein Arzt, falls es das war, was du wissen wolltest. Ich bin gewissermaßen als Freund hier.«

      »Typisch Geschwister«, murmelte John vor sich hin. Das kleine Geplänkel hatte ihn von seinen düsteren Gedanken abgelenkt. »Immer müssen sie streiten.«

      »Streiten?« fragte Adrian erstaunt. »Aber wir streiten doch nicht, Herr Tanner. Wenn wir das tun, hört sich das ganz anders an, das können Sie mir glauben.«

      »Ganz anders!« bekräftigte Esther. »Und nun erzählen Sie mal, Herr Tanner, wie es Ihnen geht. Ich habe nur schreckliche Gerüchte gehört, die ich aber alle lieber nicht glauben möchte. Und jetzt, wo ich Sie vor mir sehe, kann ich schon sagen, daß mindestens die Hälfte davon nicht stimmt. Ich hoffe, die andere Hälfte ist auch falsch.«

      Das Gesicht des Patienten verdüsterte sich, und fast bedauerte sie schon, ihn gefragt zu haben. Auch Adrian sah auf einmal sehr ernst aus. Ihr wurde klar, daß sie einen sehr heiklen Punkt berührt haben mußte, aber Esther wäre nicht Esther gewesen, wenn sie jetzt einen Rückzug gemacht hätte. Ihr Motto war, daß man der Wahrheit ins Auge sehen mußte, auch wenn sie unangenehm oder schmerzlich war.

      »Bitte sagen Sie es mir«, bat sie und griff nach Johns Hand. Sie wandte sich bewußt an ihn und nicht an ihren Bruder, der ihr vermutlich viel besser hätte Auskunft geben können. Aber sie wollte von John selbst hören, wie er seine Lage beurteilte, obwohl sie das bereits ahnte.

      »Seit ich von Ihrem Unfall gehört habe, bin ich äußerst beunruhigt, und jeder hat mir etwas anderes erzählt. Wir kennen uns zwar nicht besonders gut, aber doch gut genug, daß ich mir wünsche, es möge Ihnen gutgehen.«

      Sie hatte mit so viel Anteilnahme gesprochen, daß John unwillkürlich davon berührt war. Adrian hatte sich ans Fenster zurückgezogen und hörte von dort aufmerksam zu. Vielleicht gelang es Esther, die selbstzerstörerische Haltung des Patienten zu durchbrechen.

      »Ich bin im Augenblick querschnittsgelähmt«, sagte John heiser. »Aber alle Ärzte, Ihr Bruder nicht ausgenommen, versuchen jeden Tag, mir Mut zu machen. Angeblich ist es nicht ausgeschlossen, daß ich doch wieder gehen kann. Wir haben gerade wieder einmal darüber gesprochen, als Sie zur Tür hereinkamen. Ich habe gesagt, daß ich an eine Heilung erst glaube, wenn ich auf meinen eigenen Beinen dieses Zimmer verlassen kann.«

      Danach herrschte Schweigen im Zimmer. Esther wurde klar, wie wichtig ihre nächsten Worte sein würden. John Tanner glaubte den Ärzten nicht. Jedes aufmunternde Wort hielt er offenbar für Zweck-Optimismus. Sie vermied es, Adrian anzusehen, denn auch das, ahnte sie, würde John Tanner falsch verstehen. Als Versuch nämlich, sich über seinen Kopf hinweg wortlos zu verständigen.

      »Dann werden wir es wohl abwarten müssen«, sagte sie schließlich nüchtern. »Wenn ich das richtig sehe, sind die Ärzte optimistischer als Sie.«

      »So ist es«, bestätigte John Tanner.

      »Gibt es Gründe für diesen Optimismus, Adrian?«

      »Ja, sicher. Herrn Tanners Beine sind nicht völlig gefühllos. Er hat Empfindungen im Oberschenkel, und…«

      »Aber sonst nirgends, und daran hat sich auch nichts geändert, seit ich hier bin«, fiel ihm der Patient ins Wort. »Ich kann nicht einmal meine Zehen bewegen.«

      »Natürlich können Sie das nicht, wenn Sie eine Querschnittslähmung haben«, sagte Esther in dem gleichen sachlichen Tonfall wie zuvor. »Aber es ist völlig müßig, darüber zu spekulieren, denn Sie weigern sich offenbar zu hoffen. Und ich finde das ganz vernünftig.«

      Er war verblüfft. »Ach ja? Da sind Sie bisher die erste, die das so sieht. Fragen Sie Ihren Bruder. Der bemüht sich jeden Tag, mich dazu zu bringen, daß ich nicht alles nur negativ sehe.«

      »Wenn Sie keine Hoffnung haben, dann können Sie auch nicht enttäuscht werden – so sehen Sie das doch, oder?« fragte Esther.

      Er sah sie mißtrauisch an. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Sie einen Trick anwenden, um mich auf andere Gedanken zu bringen.«

      Esther lachte. »Ach, Herr Tanner, machen Sie die Sache doch nicht so kompliziert. Was ist so Schlimmes daran, Sie auf andere Gedanken zu bringen? Niemand kann im Augenblick etwas Genaues sagen – so ist es doch, oder?«

      Er nickte und wartete darauf, daß