ist. Zuviel Optimismus kann genauso falsch sein wie zuviel Verzweiflung. Das muß jeder für sich herausfinden. Natürlich haben Ärzte es lieber, wenn ihre Patienten Hoffnung haben. Aber wenn diese Hoffnung dann enttäuscht wird, dann sind es die Patienten, die damit leben müssen – nicht die Ärzte. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.«
Wieder war es still im Zimmer. Adrian stellte erstaunt fest, daß seine kluge ›kleine Schwester‹ mit ihren Worten völlig recht hatte. Auch er selbst hatte versucht, Hoffnung zu vermitteln. Aber was bedeutete das schon, wenn man selbst nicht direkt betroffen war? John Tanner mußte schließlich damit leben, wenn er, entgegen aller Hoffnung, doch nicht wieder laufen konnte.
»Vielen Dank, Frau Dr. Berger«, sagte der Patient nach einer Weile.
»Sie haben mir sehr geholfen.«
»Dann laß ich euch jetzt mal allein«, meinte Adrian. »Wer weiß, was ihr noch alles zu besprechen habt.«
»Einiges«, sagte Esther lächelnd. »Übrigens läuft der Film immer noch, den wir neulich nicht gesehen haben. Wenn du Lust hast, melde dich!«
Adrian nickte und verabschiedete sich. Tief in Gedanken versunken kehrte er in die Notaufnahme zurück.
*
Mareike Sandberg war nach Berlin zurückgekehrt, und sie war froh darüber. Sie sah sich aufatmend in der winzigen Wohnung um. Winzig, aber hübsch. Zwei kleine Zimmer, Küche, Bad, direkt unter dem Dach eines alten Hauses. Sogar einen Balkon hatte sie, der ins Dach eingeschnitten war. Sie hatte Glück gehabt mit dieser Wohnung, die günstig lag und noch bezahlbar war.
Rosemarie Hagen hatte ihr ein paar ausrangierte Möbel, die bei ihr im Keller standen, überlassen, den Rest hatte sie billig gekauft. Die Sache mit dem Geld war noch völlig ungeklärt, das war das nächste, worum sie sich kümmern mußte.
Sie hatte sich an der Universität eingeschrieben und einige Male mit einer erfahrenen Scheidungsanwältin getroffen, der sie ihre Lage geschildert hatte. Diese Anwältin würde sie vertreten. Mareike hatte Vertrauen zu ihr. Es war eine ruhige, ältere Frau, die sehr unaufgeregt an die Sache herangegangen war. Genau das hatte Mareike gebraucht.
Mit Robert hatte sie keinen Kontakt aufgenommen, sie wollte ihn am liebsten gar nicht mehr sehen, aber das würde sich natürlich nicht machen lassen. Je länger sie über die Jahre ihrer Ehe nachdachte, desto unwirklicher erschienen sie ihr. Und sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie sie die zahllosen Demütigungen und Bevormundungen von Seiten ihres Mannes überhaupt so lange hatte ertragen können.
Die Presse hatte noch keinen Wind davon bekommen, daß sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammenwohnte, und sie war froh darüber. Aber für sie würde man sich höchstens eine kurze Zeitlang interessieren, das wußte sie. Viel wichtiger würde die Antwort auf die Frage sein: Wer ist Robert Sandbergs Neue? Ihr selbst jedenfalls war das herzlich gleichgültig. Dieses Kapitel lag hinter ihr. Zwar war es noch nicht verarbeitet, aber auch das würde kommen.
Und sie würde sehr gern endlich wieder reiten gehen, aber bisher hatte sie sich noch nicht getraut. Was würde sie im Club erwarten? Wie würde man sie behandeln? Hatte Robert auch dort Macht und Einfluß? Eigentlich konnte sie sich die Mitgliedschaft im Augenblick nicht leisten – zumindest so lange nicht, bis sie einen Überblick über ihre finanzielle Lage hatte. Aber sie wäre doch gern wieder einmal mit John Tanner über die Felder geritten.
Was John wohl machte? Sie hatte versucht, nicht an ihn zu denken, aber das hatte natürlich nicht geklappt. Er war ihr viel wichtiger, als sie geahnt hatte. Nein, das stimmte nicht, eigentlich hatte sie es nicht nur geahnt, sondern sogar gewußt, wie wichtig er ihr war. Aber sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, denn die ganze Geschichte war schließlich völlig aussichtslos. Sie war es zumindest gewesen. Jetzt freilich…
Ob er sie vermißt hatte? Ach, wie gern hätte sie mit ihm gesprochen!
Das Telefon klingelte und riß sie aus ihren Gedanken. »Na, Schätzchen?« fragte Rosemarie Hagen. »Wie fühlst du dich so ganz allein in deiner neuen Wohnung?«
»Sehr gut!« sagte Mareike mit fester Stimme. »Es war richtig, was ich gemacht habe, Tante Rosi.«
»Davon bin ich überzeugt«, kam die prompte Antwort. »Und wie geht’s nun weiter?«
»Ich bin schon an der Uni eingeschrieben, ich habe mir eine Anwältin gesucht – jetzt fehlt mir nur noch ein Job.«
»Kind, das ist doch Unsinn, ich habe es dir neulich schon gesagt! Deine Familie schwimmt im Geld, dein Mann ist verpflichtet, dir Unterhalt zu zahlen, und…«
Mareike unterbrach sie. »Du brauchst gar nicht weiterzureden, Tante Rosi. Ich gehe vor niemandem auf die Knie. Wenn bei dem Scheidungsurteil herauskommt, daß Robert unterhaltspflichtig ist – gut. Aber ich bin davon nicht überzeugt. Er hat damals einen Ehevertrag aufsetzen lassen, für den ich mich leider nie interessiert habe. Das hat meiner Anwältin gar nicht gefallen, sie hat immerzu mißbilligend den Kopf geschüttelt. Also, es kann gut sein, daß ich von Robert keinen Cent bekomme. Und du glaubst doch selbst nicht, daß ich mich in die Abhängigkeit meiner Eltern begebe? Du kennst sie schließlich.«
»Allerdings!« Rosemarie Hagen konnte nicht verhindern, daß ihr dieser Ausruf herausrutschte. Sie hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt und fragte: »Was für einen Job suchst du denn? Das ist doch sicher nicht so einfach?«
»Ich könnte Taxi fahren«, antwortete Mareike seelenruhig. »Ich kenne jede Ecke in Berlin, und Autofahren kann ich gut, wie du weißt.«
»Das ist ein ziemlich öffentlicher Job«, warnte ihre Tante. »Wenn dich jemand erkennt, kann das äußerst unangenehm werden.«
»Mich erkennt schon keiner«, erwiderte Mareike unbekümmert. »Wer sieht sich schon eine Taxifahrerin genau an? Und ich werde eine Schiebermütze und abgewetzte Klamotten tragen, mich nicht schminken und nichts – du wirst sehen, kein Mensch wird mich erkennen.«
»Na, ich weiß nicht.« Die Stimme ihrer Tante klang skeptisch.
»Ach, mach dir um mich keine Sorgen, Tante Rosi. Wenn alles schief läuft, habe ich ja noch dich.«
Sie lachten beide, und als Mareike gleich darauf auflegte, freute sie sich auf einmal unbändig auf ihr neues Leben.
*
»Was sagen Sie da?« fragte John Tanner.
»Frau Sandberg ist angeblich seit längerer Zeit nicht im Reitclub gewesen«, wiederholte Esther Berger. »Ich habe mich nach ihr erkundigt, aber niemand wußte etwas. Sie haben alle angenommen, daß sie krank ist.«
John sah sie ungläubig an. »Aber doch nicht so lange!« rief er. »Schon als ich den Unfall hatte, war sie ein paar Tage nicht da gewesen.« Er wurde ganz aufgeregt. »Da ist bestimmt etwas passiert, Frau Berger. Sie wissen doch auch, wie gern Frau Sandberg reitet! Darauf würde sie nicht verzichten, wenn nicht etwas wirklich Ernsthaftes sie daran hindern würde!«
Esther betrachtete ihn nachdenklich. Wenn sie noch den geringsten Zweifel gehabt hätte, daß John Tanner Mareike Sandberg liebte, dann wären sie spätestens jetzt ausgeräumt gewesen.
»Ja, allmählich habe ich auch das Gefühl, daß da etwas nicht stimmt«, meinte sie nachdenklich. »Ich könnte ja mal bei Sandbergs anrufen – obwohl ich Frau Sandberg eigentlich nicht gut genug kenne, um das zu tun.«
»Mir haben Sie es schließlich auch geraten«, erinnerte er sie. »Und ich kenne sie kaum besser als Sie.«
Sie lächelte fein, sagte aber nichts. Natürlich stimmte nicht, was er gesagt hatte, und er wußte es auch ganz genau. Aber wenn es ihm half, seine Gefühle zu leugnen, dann würde sie ganz bestimmt nichts dagegen unternehmen.
Was aber würde Mareike Sandberg sagen, wenn sie von diesem Unfall erfuhr? Esther war fast sicher, daß sie bisher noch nichts davon wußte. Sie hätte sich sonst bestimmt bereits in der Klinik sehen lassen. Denn Mareike hegte für John die gleichen Gefühle wie er für sie, davon war Esther längst überzeugt.
»Gut«,