hilflos sah – aber noch viel weniger wollte er, daß sie selbst krank und hilflos war. Dieser Gedanke war ihm unerträglich.
*
»Wie geht es Herrn Tanner?« erkundigte sich Julia Martensen bei ihrem Kollegen Adrian Winter.
»Nicht besser, nicht schlechter«, antwortete dieser. »Die Neurologen machen regelmäßige Untersuchungen, aber er spürt noch immer nichts – an beiden Unterschenkeln nicht. Und er selbst geht sowieso davon aus, daß er nicht wieder wird laufen können.«
»Wieso eigentlich?«
»Ich weiß es nicht. Meine Schwester kennt ihn übrigens. Ihre Theorie ist, daß er versucht, sich zu schützen. Wer zuviel erhofft, kann schlimmer enttäuscht werden als jemand, der keine große Hoffnung hat.«
»Womit er recht hat«, meinte Julia. »Und wenn es ihm hilft…«
»Das bezweifle ich eben, Julia. Er mobilisiert einfach keine Kräfte. Als ob er keinen Lebenswillen mehr hätte.«
»Ein so junger Mann«, sagte Julia. »Und so begabt, hast du gesagt.«
»Ein Künstler!« bestätigte
Adrian. »Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß ihm noch etwas anderes Kummer bereitet als sein Gesundheitszustand.«
»Die Liebe?«
Adrian hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht, Julia. Aber etwas bedrückt ihn. Ganz sicher.«
»Hast du deine Schwester mal danach gefragt? Ich meine, wenn sie ihn kennt, dann weiß sie doch vielleicht, was mit ihm ist.«
Er schüttelte den Kopf. »Auf diesen naheliegenden Gedanken bin ich bisher nicht gekommen«, gestand er. »Aber das werde ich nachholen. Sie kennen sich zwar nicht sehr gut, aber ich glaube, Esther hat einen hervorragenden Draht zu ihm. Sie findet die richtigen Worte, wenn sie mit ihm spricht. Das macht sie besser als ich.«
Julia lächelte. Der junge Notaufnahmechef war wieder einmal viel zu bescheiden, fand sie. Aber sie widersprach ihm nicht.
*
»Guten Tag, hier ist Dr. Berger, ich würde gern Frau Sandberg sprechen, wenn das möglich ist.« Esther fragte sich, was das für ein Lärm war, der ihr durch den Hörer entgegenschallte. Es klang, als würde im Hause Sandberg ein großes Fest gefeiert. Wenn das so war, dann war die Dame des Hauses ganz sicherlich nicht schwer krank.
»Wie ist Ihr Name?« fragte die reservierte Stimme am anderen Ende.
»Dr. Berger. Esther Berger. Wir kennen uns vom Reiten, Frau Sandberg und ich.«
»Einen Augenblick bitte.«
Esther wartete. Lautes Lachen war zu hören, eigentlich war es eher ein Kreischen. Sie fröstelte ein wenig. Irgendwie hatte sie sich eine Abendgesellschaft bei Sandbergs immer höchst kultiviert vorgestellt. Aber das, was sie hörte, klang alles andere als kultiviert.
Ihre Gedanken wurden durch eine eisige Männerstimme unterbrochen. »Sandberg.«
»Oh«, sagte Esther. »Ich wollte eigentlich gern mit Ihrer Frau sprechen, Herr Sandberg. Mein Name ist Esther Berger.«
»Und was wollen Sie von meiner Frau?«
Esther spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Auch ihre Stimme wurde nun sehr kühl. »Das würde ich ihr gern selbst sagen, wenn Sie gestatten.«
»Ich gestatte nicht. Sonst noch etwas?«
Esther brauchte zwei Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen, aber das war bereits zu lang. Robert Sandberg hatte aufgelegt.
Im ersten Augenblick konnte sie es kaum glauben. Dann fing sie an, erregt in ihrer Wohnung auf und ab zu laufen, um sich wieder zu beruhigen.
»Das gibt’s doch gar nicht«, schimpfte sie. »Das kann doch einfach nicht wahr sein! Was ist das denn für einer? Wofür hält er sich überhaupt?« Sie führte noch mehrere Minuten lang Selbstgespräche, so aufgebracht war sie über die Unverschämtheit des Mannes, mit dem die sanfte Mareike Sandberg verheiratet war.
»Wie konnte sie nur ein solches Ekel heiraten?« fragte sich Esther laut. »Der hält sie ja offenbar wie eine Gefangene, wenn er auch noch kontrolliert, mit wem sie telefonieren darf und mit wem nicht.«
Sie blieb stehen und dachte nach. Dann ging sie zu einem großen Sessel und ließ sich hineinfallen. Und nun? Was sollte sie tun? Es war ganz offensichtlich zwecklos, noch einmal bei Sandbergs anzurufen. Sie zweifelte nicht daran, daß es ihr genauso ergehen würde wie beim ersten Mal.
Aber jetzt war ihre Neugier erst recht geweckt. Es mußte schließlich einen Grund für Robert Sandbergs ungehöriges Benehmen geben. Er hat etwas zu verbergen, dachte sie plötzlich. Und das muß mit seiner Frau zu tun haben.
Sie blieb noch lange in ihrem Sessel sitzen und dachte nach.
*
»Ich hasse Nachtdienst!« schimpfte Dr. Bernd Schäfer vor sich hin. »Ich bin ein Morgenmensch, nachts bin ich zu nichts zu gebrauchen.«
Dr. Adrian Winter sah seinen überaus wohlgenährten jüngeren Kollegen mit einem nachsichtigen Lächeln an. »Dann hast du dir den falschen Beruf ausgesucht, Bernd! Als Arzt an einem Krankenhaus wird es dir kaum gelingen, ohne Nachtdienste auszukommen.«
»Ich muß ja nicht hierbleiben«, murrte Bernd. »Ich könnte eine Praxis eröffnen und reich werden.«
»Als Chirurg?« erkundigte sich Adrian. »Oder willst du noch eine Spezialausbildung machen – sagen wir mal: Kieferchirurgie?«
Bernd Schäfer verzog das Gesicht. »Du bist gemein. Statt mich aufzubauen, entmutigst du mich auch noch.«
Schwester Monika Ullmann kam atemlos hereingestürzt, und sofort strahlte Bernd. Noch immer war er hoffnungslos in sie verliebt. Sonst war sie einem kleinen Flirt nie abgeneigt, obwohl Bernd überhaupt nicht ihr Typ war, aber jetzt hatte sie dafür keine Zeit.
»Ein ungefähr vierzig Jahre alter Mann ist in einem Bordell zusammengebrochen«, sagte sie. »Verdacht auf Schlaganfall. Sie bringen ihn direkt hierher.«
Die beiden Ärzte waren sofort höchst konzentriert. Als die Sanitäter den Mann hereintrugen, hätte Adrian beinahe einen scharfen Pfiff ausgestoßen. Er unterdrückte ihn im letzten Augenblick.
»Das ist Robert Sandberg!« sagte er leise zu Bernd. »Er war neulich schon einmal hier, und ich habe ihn gewarnt, daß er aufpassen muß. Er hat offenbar nicht auf mich gehört.«
Er stellte den Sanitätern noch einige Fragen, dann eilten sie wieder hinaus, und die beiden Ärzte begannen mit der Untersuchung.
Adrian beugte sich über den Patienten. »Herr Sandberg, wissen Sie, was passiert ist?«
Der Mann stöhnte und bewegte die Lippen. »Nein…«, brachte er schließlich heraus. »Ich… ich… Wo…?«
»Im Krankenhaus«, antwortete Adrian. »In der Kurfürsten-Klinik. Ich bin Dr. Winter, erinnern Sie sich an mich? Sie sind vor gar nicht langer Zeit schon einmal hiergewesen.«
»Nein«, brachte Robert Sandberg mühsam heraus. »Weiß… nicht.«
»Das macht nichts, Sie sind jetzt sehr müde und erschöpft, ruhen Sie sich aus. Wir kümmern uns um alles. Es wird Ihnen bald bessergehen.«
»Aber ich…« Der Patient brach ab, das Sprechen fiel ihm zu schwer.
»Rechtsseitige Lähmung«, sagte Bernd leise, und Adrian nickte. Er hatte nichts anderes erwartet.
»Können Sie die Finger an Ihrer rechten Hand bewegen, Herr Sandberg?«
Zeigefinger und Daumen zuckten. »Sehr gut«, lobte Adrian und wandte sich dann an Schwester Monika. »Infusion für Herz und Kreislauf, wir müssen ihn stabilisieren. Und dann sag bitte sofort auf der Intensivstation Bescheid. Er könnte Glück gehabt haben, daß es nur ein leichter Schlaganfall ist.«
Geschickt